6. Flucht vor irgendetwas

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Astrid rannte. An ihr flog die Landschaft, die vielen Bäume, vorbei. Sie konzentrierte sich nur auf das, was vor ihr lag. Hinter einer Klippe sah man bereits den Ozean, so rot wie Blut. Das war das Ende. Eine Sackgasse. Hektisch sah Astrid hinter sich. Alles war rot, ziemlich dunkel. Vermutlich war es Nacht. Sie konnte nichts erkennen. Nur der Anblick der Dunkelheit, die sich hinter den Bäumen breitmachte, empfing die 20-Jährige. Also drehte sie sich wieder um. Sie kam zu einem Halt. Vor ihr ging es nicht mehr weiter. Der Boden endete und in ungefähr hundert Metern Tiefe erwartete sie das Meer. Wieder blickte Astrid ruckartig hinter sich. Noch immer war nichts zu erkennen. Die Angst, die sie fühlte, wurde mächtiger. Sie übernahm fast ihren ganzen Körper und brachte sie zum Zittern.
Plötzlich fühlte Astrid nichts mehr unter sich. Sie war zu viele Schritte nach hinten gegangen und abgerutscht. Sie fiel für nicht einmal eine Sekunde. Die Kriegerin hielt sich angestrengt an dem Rand der Klippe fest, sah dabei aber nicht ihre Hände. Sie versuchte, sich hochzuhieven. Vor sich tauchten einige helle Kleckse aus den Wäldern auf. Astrid wusste nicht, was es war. Alles war rot. Wie sollte sie etwas erkennen? Ihr Blick fiel nach unten. Das Wasser klatschte gegen die Felsenwand der Klippe. Es sah bedrohlich aus. Sie wollte nicht fallen. Sie wollte sich nicht verletzen. Nochmal versuchte die junge Frau, sich auf den Boden zu ziehen. Sie wollte auf festem Grund stehen, auch wenn diese hellroten Lichter sie erwarteten.
Doch mit diesem Gedanken im Kopf passierte es. Genau das, was sie nicht wollte. Astrid fiel. Diesmal nicht nur für eine Millisekunde. Diesmal lange. Sie sah die Klippe von unten. Sie wurde immer kleiner und entfernter. Dann wurde alles schwarz. Und Astrid wachte auf.
Keuchend saß Astrid aufrecht in ihrem Bett. Die Wikingerin sah verwirrt um sich. Sie war in ihrer Hütte. Und alles hatte seine normalen Farben, kein Rot. Noch immer mit einem Schock stützte sich Astrid mit der einen Hand am Bett ab, mit der anderen griff sie sich an ihre Stirn. Sie spürte den Schweiß. Noch dazu hatte sie recht starkes Kopfweh.
Was war das? So lautete ihre Frage. Sie wusste, es war wieder eine dieser Visionen, aufgrund der roten Farbe. Aber was genau hatte sie da gesehen? Sie war vor irgendetwas weggelaufen. Aber was war irgendetwas? Vor was war sie geflüchtet? Was hatte bewirkt, ihr solch eine Angst zu hinterlassen?
Zur Beruhigung noch einmal tief ausatmend legte sich Astrid wieder hin. Sie fasste sich ihre Decke ins Auge und begann, zu überlegen. Würde sie nun immer derartige Visionen erleben?

Hicks, der gerade in der Schmiede arbeitete und Astrid erspäht hatte, blickte genauer auf ihre eine Hand. Er bemerkte, dass das, das sie in ihrer Hand hielt, Kraut war. Das Kraut, das Gothi ihr gegen Kopfweh verschrieben hatte. Hicks' Blick fiel wieder auf die Schlange von Berkianern, die ihre Sachen in der Schmiede repariert bekommen wollten. Sie war nicht allzu groß. ,,Grobian, übernimm mal kurz. Dauert nicht lang", rief der Braunhaarige seinem Freund zu und verließ dann das Gebäude. Mit einem ,,Astrid" näherte er sich seiner Freundin von hinten. ,,So heiße ich", erwiderte diese und drehte sich zu ihm um. ,,Hattest du wieder eine Vision?", fragte der 20-Jährige und deutete auf das Kraut in ihrer Hand, worauf Astrid es ebenfalls betrachtete. ,,Ja, leider. Ich hab mir gleich etwas mehr mitgenommen für die weiteren Visionen, die sehr wahrscheinlich kommen werden." ,,Ja, vermutlich. Ich könnte mich nicht genug aufregen, dass wir nicht wissen, was auf der Insel passiert ist", seufzte Hicks entnervt. ,,Da fällt mir ein", sagte er dann und sein Gesicht nahm einen anderen, forschenden Gesichtsausdruck an. ,,Diese Insel, die du im Traum siehst. Könnte es vielleicht die Insel sein, auf der du gewesen bist?" ,,Hicks", begann Astrid und seufzte. ,,Wenn ich nicht weiß, was auf der Insel passiert ist und wie sie ausgeschaut hat, wie soll ich diese Frage dann beantworten?" ,,Keine Ahnung. Hätte ja sein können, dass du irgendein Gefühl hast, ob sie es ist oder nicht." ,,Nein, das ist nicht der Fall." ,,Na, schön. Aber Astrid", Hicks nahm ihre freie Hand. ,,bitte gib mir immer bescheid, wenn du Visionen hast. Vielleicht kann ich dir irgendwie helfen." ,,Okay, mach ich", versprach Astrid und lächelte. Aber da Astrid eine Person war, die gerne ihre Probleme selbst löst, wusste sie nicht, wie viel Wahrheit hinter ihrer Aussage lag.

,,Schneller Sturmpfeil!", schrie Astrid ihrem Drachen zu. Die Nadderdame gehorchte und beschleunigte ihr Tempo. Astrid musste lächeln. Wie sie es liebte, durch die Lüfte zu fliegen und den herrlichen Flugwind zu spüren. Es gab ihr ein Gefühl von Freiheit und Gelassenheit. In diesem Momenten konnte sie all ihre Sorgen vergessen. Wie zum Beispiel ihre jetzige Situation. Sie konnte vergessen, dass sie sich irgendetwas eigenartiges eingefangen hatte und manchmal komische Bilder vor sich sah.
Genau an das dachte Astrid, als sie zwinkerte. Die Augen wieder geöffnet sah sie auf einmal Rot. Schon wieder. Die junge Frau konnte sich auf nichts anderes konzentrieren als auf das Bild, diese Insel, die sie vor sich sah. Sie sah die Bäume, die Sträucher, die Quelle und den kleinen Fluss, alles in Rot. Es löste bei ihr eine Gänsehaut aus.
Da sich Astrid nicht mehr auf die Außenwelt konzentrieren konnte, lockerte sich ihr Griff um den Sattel. Sturmpfeil fühlte, wie das Gewicht auf ihr immer leichter wurde. Dann krächzte sie aufgeregt und besorgt, als Astrid vollständig aus dem Sattel rutschte und in die Tiefe fiel.

Hiccstrid ~ Rote Bilder ✅Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt