...wahre Liebe herrscht nicht nur zwischen Mann und Frau.

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14. Juni 1945
[12:23 Uhr]

Lovino stürmte wie von der Tarantel gestochen die Treppen hoch in den zweiten Stock. Sein Herz raste wie wild und seine Sicht wurde Mal zu Mal verschwommener. Tränen flossen wie Wasserfälle seine Wangen herab, die schließlich einen Platz in seinem ungemachten Bett fanden und sein Kopfkissen in ein riesiges Taschentuch verwandelten. Er konnte es nicht fassen. Sein dummer kleiner Bruder würde ihn verlassen. Und zwar für immer. Wie ungerecht! Feli hatte nie auch nur jemandem das Haar gekrümmt und trotzdem würde ihm sein kostbares Leben einfach so entrissen werden, als wäre es ein einfaches bedeutungsloses Spielzeug.
Lovino schlug mit der Faust gegen die Wand. Den Schmerz willkommend entgegengetreten.
Er schrie.
Er weinte.
Er fluchte.
Er boxte.
Er versuchte alles, um dieser stetig größer werdenden Leere zu entgehen, die ihn aushüllte, als wäre er ein wertloses Gefäß aus Ton.
Vergebens.
Das Wissen, dass der eigene Bruder mit hoher Wahrscheinlichkeit...sterben würde...es versetzte einen in einen Rausch von reiner Panik. Man fürchtete sich vor der Zukunft; man fürchtete sich von der Gegenwart; man fürchtete sich vor der Realität. Lovino wollte im Moment nichts Anderes, als einzuschlafen und sich in einem anderen, fröhlicheren Leben wiederzufinden. Ein Leben, welches nicht mit Angst, Tod und Krieg gefüllt war, sondern eines mit Frieden, Freude und Leben.

Mittlerweile lag der Italiener mit den schokoladenbraunen Haaren rücklings im Bett. Seine Atmung war hektisch, aber wenigstens hatte sein Tränenfluss aufgehört. Der Grund für seine jetztige Ruhe oblag einzig und allein der Anwesenheit seines Freundes Antonio, der auf der Bettkante saß und Lovino vorsichtig durch die Haare strich. Er war wenige Sekunden nach Lovino in das Haus gerannt, um dem deprimierten Italiener zu folgen. Sie waren gerade noch durch die Gassen der kleinen Stadt geschlendert, als sie auf die altbekannten Tratschtanten Gerti und Resi trafen, die soeben mit Lovinos Vater vor der städtischen Apotheke über Felicianos Gesundheitszustand redeten. Lovi hatte so Einiges mitbekommen und der Schrecken, die Angst und die Verzweiflung war ihm ins Gesicht geschrieben gewesen. Antonio konnte genau mitbeobachten, wie sich das empfindliche Herz des mürrischen Italieners langsam entzwei teilte. Er hatte es an seinen schönen grün-braunen Augen erkannt. Er wusste nicht mehr, durch was er genau darauf aufmerksam wurde, aber das tat nichts zur Sache.
Seine höchste Priorität war nun, seinen Freund zu trösten und ihm seine Sorgen, so gut es ging, auf Eis zu legen. Er konnte sich gut vorstellen, wie schrecklich es für Lovino gewesen sein muss, als er von Feliciano erfuhr. Egal wie oft man sich mit seinen Geschwistern stritt, sie nahmen dennoch einen wichtigen Teil des Herzens ein. Und nahm dir das Leben einem diese auf ewig weg, so würde auch ein Teil von dir sterben und die Einsamkeit müsste dieses unstättigende Loch füllen.
Man mochte es vielleicht nicht zugeben, aber man konnte es auch nicht verleugnen.

Die lauten Schluchzer Lovinos verstummten und es war nur noch ein ruhiges Schniefen zu hören, welches durch sein tränengetränktes Kissen abgedämpft wurde. Seine Atmung wurde klarer und ruhiger, bis man sie von der eines Schlafenden nicht mehr unterscheiden konnte.
"Lovino?", der gebürtige Spanier piekste den Gemeinten kurz an der Wange, um herauszufinden, ob dieser noch ansprechbar oder bereits ins süße Land der Träume gereist war, "Lovi? Geht's wieder?" Letzteres kam ihm nur im Flüsterton heraus, als er bemerkte, dass sich sein kleiner Italiener nicht mehr vom Fleck rührte oder auch nur einen Mucks von sich gab. "Er ist tatsächlich eingeschlafen...", dachte sich der junge Mann mit den braunen Locken und lächelte. Wenigstens würde der Schlaf ihm beim Verarbeiten des Schocks helfen. Wie oft hatte er selber eine Siesta gehalten, um von der ganzen weltlichen Negativität zu fliehen? Antonio wusste es nicht, aber er wusste, dass es oftmals half. Man fühlte sich befreit von all der Last, die man auf seinen Schultern trug; man konnte frei und sorgenlos sein. Frei von Leid, frei von Kummer und frei von der grausamen und doch wunderschönen Welt.

Stern des Himmels | GerItaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt