Zweiter Akt

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17. Juli 2026
[13:00 Uhr; irgendwo zwischen Bad Ischl und Mariazell]

Im kühlen Schatten der überwiegend gleich bleibenden Bäume und fuhren sie die Straße entlang. Die Berghänge zur Linken waren kahl und grau, nur vereinzelnd sprossen kleine Pflänzchen auf dem kargen Untergrund. Der Himmel war bewölkt und einige graue Regenwolken hatten sich gebildet, die ihren Regen jeden Moment zu Boden fallen lassen könnten. Zu ihrer Rechten lag ein Tal, das trotz der seiner vielen Hügel eine kleine Gemeinde beherbergte, deren Häuser entweder auf einen Fleck gepfercht oder in alle Richtungen zerstreut waren. Ein dünnes Flussbett zog sich quer durch die Kleinstadt und ließ alles, trotz des gedämmten Lichts, in einem saftigen Grün erstrahlen. Es war nur eines von vielen kleinen Ortschaften dieser Region Österreichs, weswegen Ludwig die Alpen-Panorama Landschaft nur halbherzig wahrnahm.

Er war todmüde, sein Kopf fühlte sich wegen der bereits neunstündigen Autofahrt an wie ein vollgestopftes Kissen und sein Sitzfleisch schien gefühlsmäßig her nur mehr Haut und Knochen zu sein. Wie gern würde er sich nur für fünf Minuten die Beine vertreten, die frische Luft einatmen - die nicht aufgrund seines Bruders nach einem Kanister Energy Drinks roch - und einfach den Kopf frei bekommen.

Er hatte die ganze Nacht nicht ruhig schlafen können, ohne von kurzen Alpträumen oder Gilberts energischem Hupen beim Stau auf der Autobahn aufgeweckt zu werden. Teilweise war er aber auch erleichtert, dass er in der ständigen Gegenwart seines Bruders nicht für lange Zeit eingenickt war. Denn oft, wenn er morgens aufwachte...weinte er. Er konnte sich oftmals nicht mehr an das Geträumte erinnern, aber jeden Morgen wachte er mit dem Gefühl etwas verloren zu haben auf und es wurde tagtäglich schlimmer.

Seine Brust würde anfangen zu brennen, sein Herz würde rasen und er hätte das Bedürfnis, irgendwo hin zu gehen. Irgendwo hin, wo diese Leere, wo dieser Verlust, endlich Ruhe fand. Aber er kannte den Weg nicht. Er war blind gegenüber dem wilden, verwachsenen Pfad, der ihn an sein vergessenes Ziel brächte. Er war blind gegenüber den Botschaften, die sein Unterbewusstsein in seinen Träumen versteckte. Er war blind...gegenüber der Liebe.

Ludwig atmete leise aus und stützte seinen Kopf mit den Händen. Mittlerweile war wieder ein Stückchen Sonne hinter den dichten Wolken hervor gestochen und die riesigen Berge gingen allmählich zurück. Ludwig hätte sich fast selbst davon überzeugt, ein kleines Nickerchen einzulegen, um die Zeit schneller verstreichen zu lassen, als das Auto plötzlich anfing unnatürliche Geräusche von sich zu geben. Es ratterte und puckerte immer unregelmäßiger und lauter. Der Jüngere fragte sich, ob sie aus Versehen auf einem Schotterweg gelandet waren, doch als er zu Gilbert sah und bemerkte, wie rasch und angespannt seine Aktionen waren, verwarf er den Gedanken ganz schnell.
Er hörte den Albino leise vor sich hin fluchen und ehe er sich versah, blieb das Fahrzeug mit einem lauten Zischen und einer Menge herausqualmenden Rauch in der Haube mitten in der Pampa stehen.

"Verdammte Sch-, was ist jetzt wieder los?!", fauchte der 23-Jährige genervt, schnallte sich ab und stieg aus dem Auto aus, um nachzusehen, was das Problem war. Das war echt nicht der richtige Zeitpunkt, um eine Panne zu haben!
Ludwig folgte seinem Bruder wortlos nach draußen und begrüßte die, mehr oder weniger, frische Luft. Abgesehen von dem ekelhaften Rauchgeruch, den das Fahrzeug verursachte, tat es den beiden gut, die bessere Luft genießen zu können und sich die Beine zu vertreten. Jedoch war die Stimmung alles andere als angenehm, da Gilbert sein Bestes gab, das Auto wieder fahrbar zu machen, was leider nicht so ganz funktionierte.

"Was ist denn passiert?" Der Blonde sah seinen Bruder fragend an.
"Wenn ich das nur wüsste...", er hustete, als im eine Ladung des warmen Rauchs ins Gesicht stieg, "...aber ich schätze der Motor ist hinüber!" Der Weißhaarige drückte die Motorhaube wieder runter.
"Und was machen wir jetzt? Wir sind hier mitten im Nirgendwo und kommen nicht weiter..."
"Ja, keine Ahnung, ruf du mal bei einer Pannenhilfe oder so an! Ich schau nach, ob es hier irgendwo auch Zivilisation gibt. Ansonsten müssen wir aus dem Italien-Urlaub ein Survival-Camp machen", er machte eine Pause, "Ich seh es schon vor mir wie in diesen Survival-Serien! 'Zwei unglaublich gut aussehende Männer - einer awesomer als der andere - versuchen in den tiefsten Tiefen der Alpen ihr Überleben zu sichern. Werden sie es schaffen, den Weg zur Zivilisation zurückzufinden oder werden sie von wilden Bären und Wölfen zerfleischt?'"
Letzteres stellte er mit grotesker Gestik und verstellter Stimme dar und versank dabei so sehr in seiner eigenen Welt, dass er gar nicht bemerkte, wie sein Bruder bereits zum Handy griff und ein Video von ihm machte.

Stern des Himmels | GerItaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt