Die Farbe verblasst...

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13. Juni 1945

So wie die Sterne am Nachthimmel strahlen,
So möchte ich dir dein graues Leben bunt bemalen.
Zeitlos wie die Kunst der alten Römer,
Griechen, Germanen und Tagelöhner,
Möcht' ich dir hier etwas hinterlassen,
Etwas mit Sorgfalt und endloser Liebe verfassen,
Bevor ich werde von euch gehen,
Und euch ein letztes Mal sagen kann: Auf Wiedersehen.

Bitte behaltet euch meine Worte im Herzen,
Und verzagt nicht wegen eurer vielen Schmerzen,
Ich werde immer bei euch sein,
Auch wenn ihr euch fühlt ganz allein.
Denn wie ein Stern am Himmelszelt,
Möcht' ich verlassen diese schöne und korrupte Welt.
Vergesst mich nicht, das ist mein Wille,
Besonders du, Ludwig, verzage nicht an der Stille.
Ich möchte dich einmal lachen sehen,
Ich wollte...lediglich dein Herz verstehen.
Aber ich weiß, es ist zu spät,
Denn meine Seele hängt bereits am letzten Gebet.

Bruder, Mutter und auch Vater,
Ich kehre Heim zur Tera Mater,
Ich liebe euch so sehr,
Ebenso, wie ich Großvater verehr.
Ich gehe zu ihm und steh' ihm bei,
Und dann endlich...bin ich frei.
Und wenn ihr vier seht den ersten Abendstern,
Dann erinnert euch daran:
Ich hab euch gern.

~Feliciano Vargas

~♡~

Mit einem geschwungenen Schriftzug fuhr der junge Italiener mit seiner Füllfeder ein letztes Mal über das vergilbte, raue Buchpapier und setzte seine Unterschrift.
Die noch feuchten Buchstaben glänzten im Dämmerlicht des Abends wie Ölfarben auf einem frisch gemalten Gemälde und lösten ein beruhigendes Gefühl im Bauch des Siebzehnjährigen aus. Er liebte es, seine künstlerische Ader freien Lauf zu lassen, auch wenn er mehr begeistert von der Kunst als von der Literatur war. Jedoch war es ihm momentan verwehrt, jene Aktivität voll und ganz zu vollziehen. Er war ans Bett gebunden, durfte nicht hinaus und durfte sich nicht überanstrengen. Das Geld für viele Kunstuntensilien reichte in der Zeit der großen Inflationsrate nicht aus und das, obwohl er in einer relativ wohlhabenden Familie aufwuchs. Nichtsdestotrotz hielt ihn das nicht ab, in seinem weinroten Tagebuch mit den vergoldeten Buchstaben an der Vorderseite herumzukritzeln.
Manchmal beschrieb er seinen Tag und seine Sorgen in einem lebendigen Sturm voller Wörter; manchmal zeichnete das, was in ihm vorging, um einen Ausgleich zu finden. Denn nicht immer wusste er, was er fühlte und wie er es in Worte fassen sollte. In diesen Momenten ließ er seinen Stift sprechen, indem er ihn instinktiv über das Papier gleiten ließ und nach und nach eine Skizze von dem anfertigte, nach dem sich sein Unterbewusstsein sehnte.

Manchmal zeigten seine Bilder Landschaften; manchmal zeigten sie Menschen und manchmal auch Tiere. Schreiben und Zeichnen war wie eine Therapie für ihn, eine Hilfe, seine Last abzugeben und zu erleichtern, wenn er alleine war oder er das Gefühl hatte, dass seine Familie es falsch verstehen könnte.
Tag zu Tag fühlte er sich schwächer; Tag zu Tag dachte er mehr an den Tod und dennoch ließ ihn eine Frage nicht los.
Wann kam Ludwig wieder zurück?

Täglich fragte er nach ihm und erkundigte sich nach möglichen Briefen des Deutschen. Er war vor wenigen Monaten in den Krieg gezogen und wurde an die Front im kalten Russland geschickt, während der junge Italiener es schaffte, dem ganzen Trara irgendwie zu entgehen. Womöglich war er physisch sowie psychisch zu schwach, um etwas ausrichten zu können oder die Verantwortlichen für neue Rekruten hatten ihn einfach übersehen.
So oder so war er froh darüber, nicht dem Schrecken des Krieges hautnah gegenüber zu stehen. Es hätte ihn alleine der Gedanke daran, Menschen zu töten, zum Schwächeln gebracht. Er hätte es nie tun können und würde es auch nie tun. Es war grausam, es war verrückt. Kriege brachten generell nur Verluste mit sich und hatten nie wirklich einen Nutzen. Wieso waren Menschen nur so grausame Wesen?
Sie schändeten den Planeten und vernichteten Lebensraum sowie das Leben an sich.
Irgendwann würden sie sich damit selber ins Bein schießen und dann fängen sie an, sich die Schuld gegenseitig in die Schuhe zu schieben.
Keiner konnte alleine an allem Schuld sein. Alle hatten irgendetwas dazu beigetragen, mancher mehr, mancher weniger. Alle waren Sünder auf ihre Art und Weise.
Niemand war ohne Makel, niemand war fehlerlos.

Stern des Himmels | GerItaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt