...der Tod wird verhasst.

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13. Juni 1945
Irgendwo an der Grenze zwischen Deutschland und Österreich...

Das gedämpfte Rattern der eisernen Räder, die kleinen holprigen Streckenteile und das ständige Geräusch von befahrenen Schienen hallten still und leise durch jedes Abteil des alten Zuges.
Die untergehende Sonne schien in einem Orange-Goldton durch das gekippte Fenster, dessen Oberfläche von den Patschehändchen kleiner Kinder bereits verunreinigt war.
Am Horizont war nichts weiter als Hügel, ein paar Häuser und die Spitzen des ein oder anderen Berges zu sehen, die jedoch noch so viele Kilometer weit entfernt waren, dass man sie auch mit anderen Dingen verwechseln könnte. Im Zug war es unnatürlich still. Die anwesenden Passagiere - Kinder sowie Erwachsene - schliefen oder lasen Zeitungen und Bücher. Das Umblättern der Seiten war das einzige Geräusch, das neben dem Zug an sich zu hören war.
Ein Paar blitzblauer Augen beobachtete wortlos die immerwährende Abfolge der Fahrtstrecke. Hier und da waren Bäume, dann wurde es wieder lichter und ein kleiner Bach zog sich durch die grünen Wiesen. Dieses Landschaftsbild blieb für längere Zeit ziemlich gleich.
Der Träger dieser beobachtenden Augen seufzte und hielt seinen Kopf mit der Hand, die er auf dem kleinen Tisch abstützte.
Der junge, groß gebaute Mann saß bereits seit einigen Stunden in diesem nützlichen Transportmittel mit nur einem Ziel im Sinn: Schnellstmöglich ins Herz seines Nachbarlandes zu reisen, um ein lange überfälliges Versprechen einzubehalten...Um mit seinem Feliciano wiedervereint zu sein.
Ludwig hatte es sich geschworen. Er würde mit dem bestmöglichen Zug nach seiner Rückkehr aus dem Krieg zu dem Italiener fahren. Er wartete bestimmt schon sehnsüchtig auf ihn.
Ludwig musste lächeln. Er hatte Feliciano schon so lange nicht mehr gesehen und er freute sich so unglaublich sehr ihn wiederzusehen; ihn wieder in seine Arme schließen zu können. Wie sehr hatte er sich an jedem einzelnen Tag gewunschen, wieder bei ihm zu sein. Wie oft hatte er auf dem Schlachtfeld nur an ihn und seine ansteckende Frohnatur gedacht. Es verging wirklich kein Tag, an dem er nicht wenigstens einen kurzen Gedanken an den Jungen mit der unmöglichen Locke verschwendete. Aber...das war doch normal, wenn man verliebt war, oder nicht?

Der Deutsche hatte diese Gefühle lange Zeit unterdrückt und ignoriert. Er hatte es einfach nicht eingestehen wollen, dass dieser kleine pastaliebende Schwachkopf ihm Hälfte seines Lebens den Kopf verdreht hatte. Früher, als er für ein halbes Jahr in der selben italienischen Stadt lebte wie Feli, hatte er tatsächlich aufgrund seiner Stimme (und seines Kleidungsstiles) immer geglaubt, dass er ein Mädchen wäre. Schon damals schlug sein Herz Purzelbäume, wenn er in seiner Nähe war und einige Jahre später, als sie sich nach langer Zeit wiederfanden, hatte sich nichts geändert. Nichtmal annähernd. Auch die Tatsache, das Feliciano in Wirklichkeit ein Junge war, ließ diesen Sturm an Gefühlen in seinem Herzen nicht verwehen. Er wollte es damals verneinen und abstreiten, doch es hätte so oder so nichts gebracht.
Er liebte Feliciano.
Und egal, ob er es wollte oder nicht...er musste damit leben.

Langsam verschwand die Sonne am Horizont und ihr strahlendes Licht mitsamt den vielen Farben vermilderte sich, bis sich nur noch eine dunkle Decke über den Himmel zog und die vielen Sterne durch den Kontrast stark hervorschienen.
Lediglich die dämmrig leuchtenden Lampen des Zuges spendeten Licht, doch der silbrig glänzende Mond erschuf eine ganz andere Atmosphäre, die der Deutsche freudig in Empfang nahm.
Es erinnerte ihn an jene Nacht, in der sich beide Männer einander näher kamen. Es war eine kühle Frühlingsnacht gewesen. Die Apfel- und Kirschbäume trugen gerade ihre Blüten und der 15-jährige Ludwig feierte das Osterfest ausnahmsweise nicht zuhause in Deutschland, sondern in Österreich. Er wusste zwar nicht mehr ganz genau, was die Gründe dafür waren, aber das war Nebensache. Jedenfalls trafen sich Ludwig und Feliciano zufälligerweise in der Ostermette, da sie von ihren Familien mitgeschleppt wurden. Sie waren nebeneinander gesessen und erst als die Lichter wieder eingeschaltet wurden, bemerkten sie einander. Ludwig wusste noch genau, wie er sich fühlte, als er den kleinen Italiener nach längerer Zeit wieder sah. Er verspürte wieder eine Freude in seinem Herzen, die seit ihrer Trennung vor einigen Monaten wie ein Eisblock eingefroren war, nur darauf wartend wiedererweckt und aufgetaut zu werden. Dieses Gefühl der Fröhlichkeit behielten beide den gesamten restlichen Abend bei sich und ehe sie sich versahen, landeten sie, anstatt in ihren Betten, an einem kleinen See, dessen Wasser den hell leuchtenden Vollmond sanft abspiegelte. Sie waren umgeben von Wald und steileren Hängen; etwas weiter außerhalb der Kleinstadt.
Die beiden hatten miteinander geplaudert, gelacht und manchmal auch den Kopf geschüttelt. Letzteres traf eher auf den normalerweise ziemlich ernsten Blondschof zu.
Es war ihm schon immer ein Rätsel gewesen, wie es Feli schaffte, ihn überhaupt dazu zu bringen etwas lockerer und humorvoller zu sein.

Stern des Himmels | GerItaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt