Egon Erasa

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Bis zu ihrem 10. Lebensjahr wurde Indara zuhause unterrichtet. Indaras Mutter hatte Angst, sie würde Indara an ihre neuen Freunde in der Schule verlieren und für den Rest ihres Lebens alleine bleiben, wenn sie sie zur Schule schickte. Ihre Mutter lehrte sie zuhause all das, was sie wusste, und all das, was sie für wichtig hielt. Da ihre Mutter selbst nicht damit prahlen konnte, die längste Zeit ihres Lebens in der Schule gewesen zu sein, ihre Mutter sagte immer „früher war es nicht üblich, das junge Mädchen wie du in die Schule gehen", beinhalteten die Unterrichtsstunden oft alte Geschichten und Sagen über das Böse. Indaras Mutter hatte sie nie geschlagen, hatte stets für sie gesorgt und war freundlich gewesen. Aber sie hatte Angst.
Seit Indara denken konnte war die Angst eine Begleiterscheinung ihrer Mutter, die sie sich nicht wegdenken konnte. Sie sah in allem etwas bedrohliches, hatte Angst vor fremden Menschen, ging selten aus dem Haus. Am Abend, wenn Indara zu Bett ging, setzte sie sich an den großen Eichenholztisch im Wohnraum, starrte ein Bild an und weinte sich müde.
Einmal hatte sie vergessen das Bild wieder aufzuräumen und Indara fand es am nächsten morgen, als ihre Mutter noch schlief. Als ihre Mutter erwachte und mit schweren Schritten die Treppen zum Wohnraum hinuntertapste fragte Indara
„Wer ist das, Mama?". Sofort glänzten die grünen Augen ihrer Mutter wieder und die Tränen drohten aus den Augen herauszufallen. Ihre Mutter war dünn, aber nicht Hager. Sie hatte schulterlange dunkle Haare, sie ähnelten Indaras Haaren wenig.
Sie setzte sich zu Indara an den Tisch, legte ihr die Hand auf den Rücken und sagte
„Liebling, das ist dein Vater". Und ab diesem Augenblick wusste es Indara: ihre Mutter trauerte jeden Abend um ihren verstorbenen Mann. Daher rührte diese ganze Unsicherheit, die sie ausstrahlte, die Angst.

„Gehe nicht auf den schwarzen Berg", diesen Titel trug die letzte Unterrichtsstunde, die Indara zuhause bekam. Ihre Mutter erzählte eine Geschichte von dem Berg, am Rande Talitans. Sein Gestein war schwarz wie Pech und das Gestein sang. Es sang schaurige Lieder und lockte Kinder, Männer und Frauen an, die mutig genug waren, sich den Schauergesängen hinzugeben und ihnen zu folgen.
Niemand, der jemals dort hingewandert ist, sei jemals wieder zurückgekehrt. Dort oben würden schreckliche Kreaturen hausen, die Menschen mit ihren meterlangen Reißzähnen aufschlitzten und die Eingeweide herausfressen würden. Es war eine ziemlich blutrünstige Geschichte, zu blutrünstig für ein kleines Mädchen.
Indara wusste, dass ihre Mutter derartige Geschichten nur erzählte, um zu verhindern, dass sie sich zu weit von zuhause entfernte. Dieser Versuch war allerdings von Erfolg gekrönt, Indara traute sich tatsächlich nicht, auf diesen Berg zu wandern. Denn mit etwas hatte ihre Mutter recht behalten, das Gestein war pechschwarz, und wenn Wind ging, heulte es ganz erbärmlich.
Das war jedoch die letzte Schauergeschichte, denn an ihrem 10. Geburtstag ging Indara auf die Dorfschule, die Schule für die größeren Kinder Talitans. Ihrer Mutter fiel es schwer, doch Großmutter und Großvater überredeten sie, Indara endlich auf die Schule zu schicken. „Sie muss endlich ein paar Freunde finden." raunte Großmutter und beendete somit das Gespräch mit ihrer Mutter. Eine Stunde später ging sie los und meldete Indara an der neuen Schule an. Indara hatte tatsächlich nur eine einzige Freundin. Myka. Myka war zierlich und strohblond und aus gutem Hause. Sie ging in die Schule und war somit um einiges schlauer, als ein Mädchen, dass sich tagein tagaus zweifelhafte Geschichten anhören musste.
Sie lernte Myka kennen, als beide für ihre Eltern ein Laib Brot in der Dorfbäckerei kaufen sollten.
„Du hast einen schönen Pullover." Indara erschrak fast aufgrund dieser Aussage. Niemand fand die selbst gestrickten Pullover ihrer Mutter schön. Sie waren grell und bunt und hatten Motive, sie sich wohl besser für Kleinkinder, als für ein Schulkind eigneten. Doch Myka fand den Pullover schön und ab diesem Augenblick verbrachten sie den restlichen Tag miteinander und jeden darauffolgenden Tag.
Myka wurde ebenfalls an ihrem 10. Geburtstag an die Dorfschule übernommen, davor allerdings, war sie auf der Talitanischen Grundschule. Die beiden trafen sich an jenem Morgen an der Bäckerei, in der sie sich das erste mal begegnet sind und stapften von dort aus los zur neuen Schule.
Indara war aufgeregt, sie hatte noch nie eine Schule betreten, geschweige denn richtigen Unterricht mit einer richtigen Lehrerin gehabt. „Zur Schule zu gehen ist ganz in Ordnung, du musst nur gut aufpassen und keine Dummheiten machen, dann ist die Lehrerin ganz freundlich zu dir." versuchte Myka sie zu beruhigen. Die beiden brauchten etwa 10 Minuten quer durch das Dorf bis ans andere Ende Talitans. Die Schule war klein, der Putz blätterte ab und Indara fand sie hätte etwas Farbe gut vertragen können. Von der Schule aus konnte man in naher Ferne den schwarzen Berg sehen und Indara erschauderte. Das würde ihrer Mutter ganz und gar nicht gefallen, gut, dass sie nicht wusste wo genau die Schule lag. Sie ging zunehmend seltener aus dem Haus und Indara übernahm immer häufiger den Einkauf.
Die Glastür in der Mitte des Schulgebäudes verschluckte sekündlich Schüler, der Unterricht würde in wenigen Minuten beginnen. Sie gingen ebenfalls durch die Tür und folgten den Schülern, die in ihrem Alter waren in ein geräumiges Klassenzimmer. Die Lehrerin war bereits im Zimmer eingetroffen und stand vorn an der Tafel. Myka und Indara setzten sich in die zweite Reihe nebeneinander. Die Frau hatte mit weißer Kreide ihren Namen an die Tafel geschrieben. Frau Jankanin.
Sie war klein, hatte kräuselndes Haar, das an den Schläfen bereits ergraute. Sie trug eine Brille, und sah genau so aus wie Indara sich eine Lehrerin vorstellte.
„Guten Morgen, Kinder. Ich bin Frau Jankanin, eure Klassenlehrerin. Wir fangen heute mit ein paar Stunden Länderkunde an. Wer von euch kennt ein paar ferne Länder?" Frau Jankanin blickte in die Klasse, wo sich ein blauäugiger Junge meldete.
„Du da, wie ist dein Name?"
„Jonathan." der Junge schien schüchtern zu sein, und trotzdem meldete er sich um Frau Jankanin ein fernes Land zu nennen.
„Und du kennst ein fernes Land, Jonathan?" sie schob ihre runde Brille mit dem Zeigefinger nach oben.
„Meine Mutter erzählte mir einmal etwas über Lilinea."
„Ja ja, die goldene Stadt. Allerdings kein Land, lieber Jonathan. Viele Legenden Schlingen sich rund um diese Stadt. Kennt noch jemand ein fernes Land?"
Auch Indara kannte diese Legenden, aber es kam ihr vor als würde Frau Jankanin nicht über diese Stadt sprechen wollen, denn sie beließ es bei diesen 3 Sätzen und nahm ein anderes Kind an die Reihe das sich meldete. Es fielen ein paar Namen von Ländern, die Indara nicht kannte. Nach 2 Stunden war der erste Schultag zuende.
„Morgen werdet ihr etwas länger hier sein als zwei Stunden." hatte die Lehrerin gesagt. Myka musste rasch nachhause, sie musste den Einkauf für ihre Mutter erledigen und die Geschäfte machten bald zu. So schlenderte Indara alleine über den Hof der Schule und wurde aus ihren Gedanken gerissen als sie Schüler lauthals lachen hörte.
Rechts neben ihr stand eine Traube älterer Schüler. Sie zeigten auf Indara und riefen Dinge wie:
„Was hat die denn an?" und „Die ist bestimmt einem Zirkus entlaufen." Indara erstarrte. „Strickt Mami Dir immer noch die Kleidung, ja?" Die Traube lachte und bombardierte Indara immer wieder mit gemeinen Kommentaren. Indara stand dort, fühlte sich wie ein Baum, der zu fest im Boden verwurzelt ist, um ausreißen zu können. Ihre Füße waren wie festgenäht am Boden, und sie ließ alles über sich ergehen bis es der Traube langweilig wurde und sie abzogen.
Indara rannte den Tränen nahe auf schnellstem Weg nachhause, doch ihre Mutter war nicht da.
„Ich bin Brot kaufen, klopfe doch bitte bei Großmutter, ich hole dich später dort ab." Stand auf einem Blatt Papier, dass mit einem Nagel an der Tür befestigt war. Indaras Großmutter und Großvater lebten im Haus gegenüber.
Als Großmutter öffnete, fiel Indara ihr in die Arme und weinte bitterlich. Sie erzählte von dem Vorfall in der Schule.
„Und was hast du getan? Als sie dort standen und gelacht haben?" Großmutter schaute besorgt, Großvater schlief im alten Schaukelstuhl neben dem Kamin.
„Ich bin einfach stehen geblieben" schluchzte Indara.
„Die beste Möglichkeit aus einer unerwarteten Situation zu entkommen ist die Flucht, Indara." Indaras Großmutter starb ein Jahr nach ihrer Einschulung, Großvater ein paar Monate früher. Indara wusste nicht wie alt die beiden waren, jedoch alt genug um zu sterben, das wusste sie.
Ihre Großmutter gab oft rätselhafte Ratschläge und Indara hörte nie darauf.

Die Prinzessin von LilineaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt