Die Entscheidung

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Auch in den vergangenen 4 Tagen hatte Indara die Papierstücke, das Puzzle, das einen Brief ergab, wenn man es zusammensetzte, nicht weggeworfen. Das rote Kleid wachte noch immer aufmerksam, im letzten, untersten Regal über den Brief. Etliche Male war Indara zum Schrank gelaufen, hatte ihn geöffnet, hielt den Brief sogar schon in den Händen, legte ihn aber jedes Mal wieder an seinen Platz zurück.
Sie hatte sich geschworen diesen Brief einfach zu vergessen und es sich verboten, daran zu denken. Doch je mehr sie versuchte es sich zu verbieten, desto mehr kreisten ihre Gedanken um die mysteriösen Worte des Verfassers. Wieso kam dieser Jemand nicht einfach in den Palast, und erzählte Indara, was er über ihren Vater und das geklaute Amulett wusste?

Als sie gerade auf dem Himmelbett saß, und zum hundertsten mal daran dachte, den Brief jetzt einfach in den Müll zu werfen, klopfte Caliv an der Tür, und trat einen Schritt ins Zimmer herein.
Er trug seine übliche Uniform, und ihm hingen einige Kleider - bestimmt vier oder fünf- über den Arm. Das mussten die Kleider sein, die Indara gestern zu den Näherinnen gebracht hatte, damit sie sie wuschen, oder besser gesagt sauber zauberten. Sie waren gerade beschäftigt gewesen, mit einem wichtigen Auftrag, von dem sie Indara allerdings nichts verraten durften und hatten deshalb Indaras Kleidung nicht sofort säubern können.
„Ihre sauberen Kleider, Indara. Die Näherinnen bitten aufrichtig um Verzeihung, dass es so lange gedauert hat." Caliv stand inzwischen etwas verloren mitten in dem großen Zimmer, und lächelte sie herzlich an.
„Das ist nicht schlimm." beteuerte Indara. „Arbeiten Sie heute am Stadttor?"
„Nein. Ich bin Dienstags mit vier weiteren Soldaten zur Patrouille in den Wäldern der Umgebung eingeteilt. Wir haben unsere ersten drei Streifzüge gerade beendet, in etwa einer Stunde folgen weitere vier." Etwas blitzte in Calivs Augen, Begeisterung war es jedoch nicht.
„Und habt ihr schon etwas gefunden?" fragte Indara.
Caliv seufzte.
„Nein, außer Stock und Stein ist in den Wäldern nichts zu finden. Heute morgen hat einer von uns einen bereits verwitterten Bastkorb gefunden, den wohl ein übermütiger Pilz oder Beerensammler vor Jahren dort zurückgelassenen hat. Ansonsten sind keine menschlichen Spuren im Dickicht zu finden. Die Wälder sind unheimlich und kühl, keiner begibt sich gerne in ihre Nähe, geschweige denn dort hinein. Die Menschen haben viel zu viel Angst, dort von irgendwelchen Ungeheuern gefressen zu werden." er lachte, als würde er sich über diese Menschen lustig machen, die dem Irrglauben folgten, im Wald hausten grässliche Ungeheuer. Zwar war Indara noch nie in einem dieser Wälder der Umgebung gewesen, allerdings konnten man sie von der Stadt aus in weiter Ferne erkennen, und sie lagen wirklich dunkel und nicht sehr einladend in der Landschaft, das musste Indara zugeben. Monster hausten dort aber mit Sicherheit nicht.
Sie konnte sich also weitaus spannenderes vorstellen, als stundenlang jeden Stein der umliegenden Wälder umzudrehen, um nachzusehen, ob dort ein Verdächtiger herumlungerte. Indara hatte es besser gefallen, als Caliv ihr noch jeden Tag zur Verfügung stand, sie mit ihm die Stadt erkunden konnte, und sich von ihm mitreißende Geschichten erzählen lassen konnte. Als sie den Palast noch verlassen durfte.
Die Zahl der Soldaten, die in Lilinea und den Nachbarstädten positioniert waren, war weder gestiegen noch gesunken. Auch gab es keine neuen Ergebnisse der Suche nach dem Dieb. Es schien, als hätte die Erde diese diebische, schwarze Gestalt einfach verschluckt.
Caliv bewegte sich mit klackenden Schritten seiner vornehmen Absatzschuhe in Richtung Kleiderschrank.
„Ich werde die Kleider lieber in den Schrank legen, bevor sie in meinen Armen noch zerknittern." Ein Alarm, so laut, dass sie sich die Ohren zuhalten wollte, ging in Indaras Kopf los.
Nein! Caliv durfte den Schrank nicht öffnen, er durfte diesen verflixten Brief nicht in die Hände bekommen!
„Ich mach das schon, danke." hechelte Indara, und entnahm ihm blitzschnell die Kleider. Sie öffnete den Schrank nur ganz kurz, legte die Kleider unordentlich auf die anderen, und schloss ihn hastig wieder. Wenn Caliv den Brief entdeckt hätte, wäre er voller Sorge zu Sindan gelaufen, und hätte ihn darauf angesprochen.

Die Prinzessin von LilineaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt