Eine alte Bekanntschaft

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Ein stechender Schmerz weckte Indara aus der Bewusstlosigkeit. Woher genau der Schmerz gekommen war, vermochte Indara nicht zu beurteilen.
Oder hatte sie geschlafen? Hatte sie das alles nur geträumt und sie war überhaupt nicht bewusstlos gewesen?
Sie öffnete die Augen, und bemerkte verbittert, dass sie den schrecklichen Angriff nicht geträumt hatte. Sie befand sich zu ihrem Leidwesen nicht in ihrem gemütlichen Himmelbett im Palast, in der Nähe von Caliv und Sindan, die sie beschützten.
Die Wand, an der Indara mit dem Rücken lehnte, fühlte sich kalt und feucht durch den Stoff ihres Kleides an. Sie fühlte kühlen Stein, der ihr unregelmäßig in den Rücken drückte. War das hier etwa einer Höhle?
Indara sah sich um. Tatsächlich, sie saß an einer Felswand, die das Innere einer kleinen Höhle bildete. Die Höhle war von unregelmäßigem, dunklen Gestein und leer, bis auf ein aus Blättern und weichen Sträuchern gebautes Bett, dass an der linken Wand lag. Direkt vor sich konnte Indara den Eingang der Höhle sehen. Draußen war der Himmel tiefschwarz, es musste also noch Nacht sein.

Indara bemerkte wie etwas in ihre Handgelenke und Fußgelenke schnitt. Zuerst traute sie sich nicht, an sich herunterzusehen. Sie wusste nicht genau, was sie dort erwartete, aber sie rechnete mit dem Schlimmsten. Schließlich tat Indara es doch.
Arme und Beine waren mit einem weißen Seil zusammengebunden. Der Angreifer hatte ihr die Arme im Rücken zusammengebunden, die Beine lagen ausgestreckt auf dem Boden und das Seil umschlang die Knöchel.
Das Seil lag wie eine tote Schlange auf dem Boden, und führte bis hin zu einem Großen Felsbrocken, unter dem das Seil klemmte.
Das gelbe Kleid, das sie trug, sah aus, als hätte der Entführer Indara an den Beinen durch den ganzen Wald geschleift. Zahlreiche Löcher reihten sich aneinander, in denen abgebrochene Zweige steckten und das Kleid hatte die Farbe von erdigem Boden angenommen. Der linke Schuh fehlte ihr und die Haut ihres nackten Fußes war zerkratzt, als wäre er durch Dornenhecken gezogen worden.
Ihr Kopf schmerzte und sie bemerkte eine blutende Schürfwunde am linken Unterarm. In dem Moment, in dem sie das dunkle Blut auf ihrer Haut sah, setzte auch der brennende Schmerz ein. Kleine Steinsplitter stecken in der frischen Wunde, doch sie schmerzte zu sehr, als dass Indara hineinlangen könnte, um die Splitter herauszufischen.
Indara stemmte sich gegen das festgezurrte Seil an Armen und Beinen, doch das störrige Geflecht gab kein Stück nach. Es fühlte sich an, als würde es mit jedem Mal, das Indara daran rüttele, sich fester um ihre Gelenke ziehen.
Viel Kraft hatte Indara ohnehin nicht mehr, um gegen die Fesseln anzukämpfen, der feste Griff des Angreifers um ihren Hals hatte ihr alle Energie geraubt. Was in Teufels Namen wollte dieser Angreifer von ihr?!

Leises Gemurmel drang vom Eingang der Höhle zu ihr herüber, und das Schaben eines Messers, das in regelmäßigen Abständen  irgendwo darüber schrabbte.
Der Entführer, dachte Indara. Bestimmt saß er vor der Höhle und schliff die Klinge seines Dolchs oder schnitzte an einem Stock herum, mit dem er problemlos durch menschliches Fleisch stoßen konnte. Irgendetwas schimmerte dort draußen bläulich, etwas, das vor der Höhle liegen musste. So sehr sie sich anstrengte, Indara konnte nicht ausmachen, was diesen blauen Schein verursachte.

Wieso war sie nicht im Palast geblieben, wieso hatte sie diesen Brief nicht achtlos in den Müll geworfen, verdammte Löwenkralle!
Sie hatte keine Ahnung wo sie war, doch Sindan und Caliv würden sie hier mit Sicherheit nicht suchen. Sie würden dort suchen, wo Indara nicht war und dann wohl die gesamte Königsfamilie als verflucht erklären, weil jeder von ihnen frühzeitig starb oder einfach spurlos verschwand und niemals wieder auftauchte.
Zwar wollte Indara in die Fußstapfen ihres Vaters treten, jedoch auf keinen Fall was sein Verschwinden anbelangte.
Indara fluchte leise und wünschte ihrem Entführer die hässlichsten Warzen und die Pest an den Hals. Sollte er sich seinen angespitzten Stock doch versehentlich selbst in den Bauch rammen, sodass er daran verreckte, dieser widerliche Sohn einer Sumpfkröte! Gedanken, die sich für eine vornehmePrinzessin nicht schickten, wie man ihr erklärt hatte aber das interessierte sie gerade nicht die Bohne. Als sie noch zur Schule ging, hatte sie sich oft ausgefallene Beschimpfungen für die Schüler, die sie immer auslachten ausgedacht, und sie ihnen leise und in Gedanken an den Kopf geworfen. So tat sie es auch jetzt, nur wäre es ihr lieber gewesen, dort draußen würden gemein lachende Schüler der höheren Klassen sitzen, anstatt ein gefährlicher Angreifer, womöglich sogar ein Mörder.
Sie saß gefesselt in einer Höhle und ihr Entführer murmelte fröhlich vor sich hin, mit einem Messer in der Hand. Sie würde niemals lebend hier herauskommen, das wurde ihr in diesem Moment schmerzlich bewusst.
Der einzige Weg hier heraus führte durch den Eingang der Höhle, direkt vorbei an spitzem Stock, scharfer Klinge und unberechenbarem Angreifer. Indara wollte keinem Verrückten mit einem Messer in die Arme rennen. Doch wer war das überhaupt? War das wirklich der Verfasser des verhassten Briefes? Oder war der Hass des Zusammenbunds der Bürger Lilineas aufgrund der ausbleibenden Reaktion der Prinzessin auf den Brief, in dem sie forderten, Indara solle doch schleunigst die Soldaten zurückrufen so stark gewachsen, dass sie nun einen von ihnen schickten, um sie zu entführen und zu foltern? Aber wieso tat der Zusammenbund das gerade heute, gerade jetzt, wenn sich bereits die Nacht über das Land gesenkt hatte? Woher wussten Sie, dass sich Indara nahe des Waldes aufhielt, dass sie genau heute Sindans Regel brach, wenn sie die Aufforderung zu diesem geheimen Treffen nicht selbst verfasst hatten?
Es musste irgendeine andere Lösung geben, eine plausiblere.
Immer wieder forderte Indara sich dazu auf nachzudenken, doch sie konnte sich nicht konzentrieren, ihre Gedanken flossen immer wieder wie weiche Butter auseinander.

Die Prinzessin von LilineaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt