Paltarneks Werk

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„Dann sucht eben nochmal, verdammt!" schrie Sindan so laut, dass Caliv fürchtete, seine Stimmbänder würden sogleich bersten.
Augenblicklich sah Caliv zu Boden, um den Wutausbruch Sindans nicht mitansehen zu müssen. Seine Augen blitzten wutentbrannt, die Lippe bebte. Caliv fürchtete er würde jeden Moment einen erneuten Kollaps erleiden, wie gestern Abend bei Tisch, als sie mit dem Essen fertig waren.
Als Indara noch hier war.
Er hatte Sindan gerade erzählt, dass bis jetzt keine Spur von ihr zu finden war.
Zu Calivs Erleichterung ließ Sindan sich auf den mächtig goldenen Stuhl an der langen Seite der Tafel sinken und schlug die Hände vor das besorgte Gesicht. Es sah so aus, als würde sein Kreislauf stabil bleiben.
Sindans Wut war soeben der Trauer und der Verzweiflung gewichen, als er wild losbrabbelte.
„Caliv, mein Junge, wir erleben das alles nocheimal. All das Leid, all der Schmerz und das Unverständnis, das Egons Verschwinden hinterlassen hatte kehrt zu uns zurück, Caliv! Die Götter bestrafen uns. Warum? Warum tut ihr das?" Sindan schrie wieder, diesmal nicht zu Caliv gewandt, sondern zum Himmel.
„Das kann ich Egon nicht antun, Caliv, das kann ich nicht. Sie ist sein Kind und damit ist sie mein Kind. Und wenn es Aras ist, der...". Sindan stockte, als Caliv ihm die Hand auflegte. Kurz blickte Sindan zu ihm hinauf, eine Träne rann über seine erröteten Wangen. Kurz entflammte in ihm die Hoffnung, Sindan würde einen Moment lang auf sein hysterisches Murmeln verzichten, denn Hysterie brachte in ihrer derzeitigen Lage nichts, aber er ließ sofort wieder den Kopf hängen und schluchzte in seine Hände.
Zum Teufel, Indara, wo bist du?! dachte Caliv, der noch niemals einen solch verletzen und verlorenen Sindan gesehen hatte. Er hatte keine Zeit, ihn zu trösten, oder zu warten, bis das Zittern in seinen Fingern stoppte, oder das Weinen seiner Augen versiegte. Er musste schließlich wieder zu den anderen Soldaten.

Seitdem Sindan heute morgen Alarm geschlagen hatte, und brüllte, die Prinzessin sei verschwunden, suchten Soldaten die ganze Stadt ab. Keiner durfte ruhen. Alle mussten ausrücken, mussten all ihre Sinne auf Hochtouren laufen lassen, denn die Prinzessin musste gefunden werden, so der Befehl Sindans. Sie mussten hören wie ein Wachhund, sehen wie ein Weißadler.

Am Vormittag hatten sie die gesamte Stadt in ihrem Innern abgesucht. Die ganze Truppe, sicherlich 300 Mann, teilten sich auf in 15 kleinere Gruppen. Sie durchsuchten alle Häuser, egal ob der Besitzer des Hauses einverstanden war oder nicht. Sie guckten in die Hinterhöfe, in verlassene Stallungen und alte Schuppen. Sie Befragten alle Passanten, die sie antreffen konnten, jedoch nicht genug. Keiner hatte sie Prinzessin gesehen, einjedem war das Entsetzen hart ins Gesicht geritzt. Alles Suchen blieb erfolglos, Indara war vom Erdesboden verschluckt, genau wie der Dieb ihres Amuletts.
Mit jedem leeren Stall, jedem anteilnahmslosem Kopfschütteln der Bürger und jeder verlassenen Straße war Caliv verbitterter und trauriger geworden. Gestern Abend hatte er noch mit ihr zu Abend gegessen, heute war sie verschwunden. Einfach so.
War sie abgehauen? War ihr das neue Leben doch nicht genehm gewesen?
Nein, Caliv glaubte Indara zu kennen, wenn auch nicht lange und sie würde nicht weglaufen. Nicht einfach so, ohne zu sprechen. Jedes Mal stach es eigenartig in Calivs Brust, wenn er daran dachte, sie könnten entführt worden sein. Konnte wirklich Aras hinter diesem Vergehen stecken? Hatte denn auch Aras ihr das Amulett des Königslöwen entwendet? Die Gedanken schwirrten, wie die Schwalben am Fluss, und eckten an den Innenwänden seines Schädels an, sodass er Kopfschmerzen bekam. Auch am Fluss hatten die Truppen gesucht und Caliv machte sich widerwillig darauf gefasst, Indaras tote Leiche mit dem Kopf nach unten auf dem Fluss treiben zu sehen. Auf dem Fluss, den er ihr gezeigt hatte. Der Fluss, an dem er sich so gerne aufhielt. Caliv war froh, dass dieser Ort keiner werden würde, an den er niemals wieder gehen würde, denn keine tote Prinzessin und auch sonst nichts außer ein Kantholz trieb auf dem Wasser.

Caliv mochte Indara. Sie war wahrlich genau so wie ihr Vater. Er hatte ihren Vater gemocht, und so mochte er natürlich auch seine Tochter, denn im Kern war das Wesen dasselbe. Jedoch mochte er Indara auf eine andere Art und Weise. Egon war für ihn gewesen, wie ein zweiter Vater. Aber Indara war nicht wie eine Schwester für ihn. Er konnte ihr von sich erzählen und sie erzähle ihm von sich. Sie lachten zusammen, und Caliv erfreute sich an ihrem lieblichen Lächeln, wenn er mal wieder einen Witz machte, oder von alten Geschichten und wundersamen Geschöpfen erzählte, die sie zum Lächeln brachten. Umso ärgerlicher war es, umso schlechter war es ihm ergangen, als er sie der Arbeit wegen nicht mehr oft zu sehen bekam. Ständig musste er am Tor stehen, Patrouille laufen und war nicht mehr der Prinzessins leibeigener Wächter. Oft hatte Caliv gelangweilt am Tor gestanden, weil niemand ausreisen oder einreisen durfte, während die Suche nach dem Dieb nicht geendet hatte und fragte sich, ob Indara wohl genau so empfand. Ob sie es misste, sich mit ihm zu unterhalten und jemanden zu haben, mit dem sie ihr neues Leben entdecken konnte.  Jeden Abend verfluchte Caliv den Dieb mit wildreichen Flüchen und hoffte, dass der Menschengott - oder wenigstens irgendein Gott- ihnen helfen würde, den Dieb zu fassen, obwohl er gewöhnlich nicht an Götter glaubte. Denn Wenn es Götter tatsächlich gab, wieso hatten sie ihn von seiner Familie gerissen? Wieso ließen sie zu, dass seine Eltern stets in Sorge und Armut lebten. Zwar wusste Caliv dass es boshafte Götter, wie den Teufelsgott Paltarnek gab, jedoch konnte es nicht in der Natur eines nichtboshaften Gottes liegen, die Menschen in Leid und Elend leben zu lassen. Wieso also, hatten die anderen Götter seine Familie nicht gegen Paltarnek verteidigt? Zwar besuchte Caliv seine Familie jetzt ab und zu und brachte Geld und reichlich zu Essen mit, doch es nahm ihm nicht den Schmerz, den er als 7 Jahre alter Junge verspürt hatte, als man ihn wegschickte.
Caliv kam sich dumm vor, doch er glaubte nun fest daran, Indaras Entführung, die Entführung ihres Vaters und der Diebstahl des Amuletts, all das war Paltarneks Werk. Nur so konnte es sein, nur das war möglich.
Kurz hatte sich Caliv nachdem er einen weiteren Schuppen durchsucht und als leer erklärt hatte überlegt zu Paltarnek zu beten. Ihn zu bitten, Indara frei zu lassen, sie zurückzubringen. Er wäre bereit gewesen, dafür zu geben, was er Teufelsgott ihm mit Freuden nehmen würde: sein Leben.
Doch er entschied sich dagegen. Man ging keine Abmachung mit dem Teufel ein, der Teufel brach sein Wort, immer. Das brachte man schließlich schon Kindern bei, die noch nicht einmal genug Kraft in den Beinen besaßen um zu stehen.

So suchte Caliv mit den anderen Truppen weiter, bis er sie am frühen Mittag verließ, um Sindan zu berichten, was die Suche bis jetzt ergeben hatte, auch wenn das Ergebnis nicht sonderlich erfreulich war. Aber Caliv hatte es versprochen. Die anderen Truppen machten sich derweil auf in die Wälder. Dort wurde bis jetzt noch nicht gesucht, sie waren die letzte Hoffnung, bevor die Soldaten auch die umliegenden Städte würden belagern müssen, um auch dort nach Prinzessin Indara zu suchen.

Und nun war er hier, im Speisesaal des Palastes und wusste nicht, wie er den unendlichen Schmerz Sindans lindern konnte. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Tochter seines besten Freundes wie sein Eigen zu schützen. Und nun war sie verschwunden, genau wie ihr Vater vor 19 Jahren. Es zerriss ihm das Herz.
Gerade hatte Sindan sich wieder etwas gefangen, da stürmte einer von Calivs Kameraden durch die Tür des Speisesaals. Es war Mendor, ein groß gewachsener Soldat mit braunem Haar und großen Rehaugen. Er trug die Uniform, die auch Caliv trug. Die alle Soldaten gerade trugen. Lila und schwarz, ein Kettenhemd darüber und einen helmähnlichen Kopfschutz, mit eingegossenem Löwenkopf auf der einen Seite und Weißadlerfeder auf der anderen. Aufgeregt hechtete Mendor auf Sindan und Caliv zu, die verdutzt zu ihm herüber starrten. Sindan wollte gerade etwas sagen - wahrscheinlich wollte er Mendor fragen, wieso er nicht bei der Suche half, immerhin zahlte jeder Mann bei der Suche nach der Prinzessin - als er plötzlich innehielt. Und im nächsten Moment verstand Caliv auch warum.
In der Hand trug Mendor eine Sandale. Völlig umschlossen von Erde war sie, ein Riemchen war abgerissen. Caliv wusste sofort, dass die Sandale Indara gehören musste und auch Sindan war aufgesprungen und drehte den Schuh ehrfürchtig in den Händen.
„Den...Den...Den haben wir... gerade im Wald gefunden." keuchte Mendor, der den ganzen Weg hierher gesprintet sein musste. Völlig außer Atem stützte er sich an der Tischkante.
„Ihr ist etwas zugestoßen." sagte Sindan.
„Sucht sofort den ganzen Wald ab, und dreht jeden Stein um, und kommt ja nicht ohne Indara zu mir zurück!" befahl er.
Sofort rannten Caliv und Mendor los, Sindan war zu schwach um bei der Suche zu helfen. Sie durften keine Zeit verlieren, denn Sindan hatte recht. Indara war etwas zugestoßen, und wenn sie sich nicht beeilten, würde ihr vielleicht noch schlimmeres angetan werden. Er würde sie finden und sie retten, bevor es zu spät war. Caliv zitterten die Gliedmaßen. Er hoffte inständig und aus vollem Herzen, dass es noch nicht zu spät war. Dass sie noch rechtzeitig kamen. Mit großer Wahrscheinlichkeit steckte Aras dahinter und Caliv wusste, Aras war niemand, der sich um andere scherte. Ihn interessierten nur seine eigenen Anliegen und sein Anliegen war schon immer gewesen den Thron zu besteigen. Wer wusste schon welches Opfer er bereit war zu bringen, um sein Ziel zu erreichen. Caliv lief schneller. Nein! dachte er und schüttelte all die grausamen Gedanken aus seinem Kopf. Leise betete er. Nicht zu Paltarnek, zu allen anderen Göttern, die nicht boshaft waren und dessen Beistand jetzt auf keinen Fall schaden konnte.

Die Prinzessin von LilineaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt