Indara genoss die Tage im Palast sowie draußen in der Stadt und im Königsgarten. Oft stand sie bei der weißen Rose am Grab ihres Vaters und erzählte ihm, was es heute zu essen gab oder was sie den Tag über so erlebt hatte. Manchmal begleitete Caliv oder Sindan sie, um dem König ebenfalls ein paar liebevolle Worte entgegenzubringen.
Schuldgefühle wegen des Mordes an Aras Antem plagten sie nur noch selten, manchmal bekam sie jedoch noch Alpträume davon.
Du hast das Richtige getan, Vater hat seinen Frieden gefunden, versicherte sie sich dann selbst, um sich zu beruhigen, wenn sie wieder einmal schweißgebadet aus dem Schlaf schreckte.
Sindan hatte viel mit ihr über die tragischen Ereignisse vor 19 Jahren und auch über jene, die sich erst kürzlich ereignet hatten gesprochen. Manchmal kam es Indara so vor, als würde er nicht mit ihr darüber reden damit es ihr besser ging, sondern weil er sich es selbst von der Seele reden musste. So oder so, es tat ihnen beiden gut.
Bart und Haare strahlten wieder im üblichen Rot und fast keine Falten zeichneten sich mehr in Sindans Gesicht ab. Er wirkte junggeblieben und einfach nur glücklich.
Auch Indara war glücklich. Caliv war trotz dem Tod von Aras wieder nur für Indara zuständig. Mendor ersetzte ihn am Stadttor.
„Du hast doch sicherlich nichts dagegen, wenn Caliv dir weiterhin die schönen Orte in Lilinea zeigt, und dich begleitet." hatte Sindan gesagt. Den Tag über hatte er viel zu tun, es galt eine Krönungszeremonie vorzubereiten und zu planen. Nur manchmal klopfte Sindan über Tag an Indaras Zimmertür, um sich mit einer warmen Tasse Tee mit ihr zu unterhalten. Die Zeremonie sollte in wenigen Tagen stattfinden, die Einwohner Lilineas hatten Briefe mit dem genauen Datum erhalten und der Nachricht, dass die Stadt ab sofort sicher sei, der Dieb sei geschnappt und das Verschwinden des Königs wäre aufgeklärt, mehr dazu würden die Einwohner zu Beginn der Zeremonie erfahren. Die Atmosphäre in der Stadt verbesserte sich. Nirgends patrouillierten mehr Soldaten und die Leute fühlten sich wieder sicher und nicht mehr bedrängt oder bewacht.
Also ging Indara mit Caliv des Öfteren auf den Markt, kaufte Gebäck und Obst um es gleich danach mit ihm genüsslich zu verspeisen und schlenderte mit ihm durch die Straßen, bis sie jede Ecke und jeden Winkel der Stadt kannte. Auch zeigte ihr Caliv alle Wasserstellen der Stadt. Indara fühlte sich in der Gegenwart von Wasser am wohlsten.
Sie kamen an kleinen Tümpeln vorbei, in deren Nähe man darauf achten musste, nicht auf eine fette Kröte zu treten. Lilinea besaß erstaunlich viele kleine Seen und Weiher, Flüsse und Bäche. Überall gab es exotisch schillernde Fische in allen Größen und Farben. Indara ließ sich von Caliv jeden Namen der Vögel nennen, die sie entdeckte und noch nicht kannte.Der Feuerspatz blieb ihr besonders in Erinnerung. Er besaß feuerrotes Gefieder und auf dem Kopf hatte er eine orangene Haube, die aussah wie ein Hut. Der Feuerspatz war unüblich klein und flink und Indara hatte ihn nur aus dem Augenwinkel noch sehen können, ehe er im Gebüsch verschwunden war. Das rote Gefieder war aber dermaßen gut zu sehen, dass Indara Caliv fragte, was das Rote gewesen sei, dass gerade an ihnen vorbeigeflogen war. Lange saßen sie am blauen Weiher, wo sie den Vogel gesichtet hatten und warteten darauf, dass er wieder aus dem Gebüsch herauskam oder sie vielleicht noch ein anderes Exemplar sichten würden.
Kein Feuerspatz ließ sich mehr blicken und Indara fragte: „Können sie mich zum Thunos bringen?"
„Sind sie sicher, Indara?"
Der Thunos war der reißende Fluss außerhalb der Stadtmauern, in den die Soldaten den toten Aras geworfen hatten. Es war Caliv anzusehen, dass es sich unsicher war, ob er ihrer Forderung nachkommen sollte. Er wollte nicht, dass sie traurig wurde oder gar weinte, wenn sie an die unheimlichen Ereignisse erinnert wurde.
„Ja." sagte sie mit fester Stimme. Sie war sich sicher. Sie wollte diesen Fluss sehen, das Bild auf der Landkarte nützte ihr nichts.
„Dann soll es so sein."
Caliv und Indara liefen gemeinsam los in Richtung Stadttor.In der heißen Nachmittagssonne erreichten sie den Thunos, den sie schon von weitem hatten rauschen hören. Er war so breit wie zwei Pferdekutschen nebeneinander gestellt und die umliegende Gegend gab wirklich nichts her außer weite Felder, dünne Waldstreifen und erdigen Boden.
Die Stromschnellen rissen alles mit sich, was sie erwischten konnten und in Indara keimte Hoffnung, sie könnten Aras vielleicht doch ins Meer gespült haben. Wellen klatschten an das ausgemergelte und spärlich bewachsene Ufer, sodass die Gischt weiß schäumte. Dieser Fluss war um einiges wilder als der Schwalbenfluss in Lilinea. Wer hier hineinfiel konnte sich ohne Hilfe nicht mehr retten, die Stromschnellen würden ihn in die Tiefe reißen und ertränken.Unsicher blieb Caliv stehen und musterte Indara, doch diese war fest entschlossen und legte das letzte Stück bis zum Ufer zurück, wo sie sich niederließ. Schnell kam Caliv hinterher und setzte sich zu ihr.
Einige Sekunden starrten sie stumm auf das Wasser, das mit all seiner Gewalt die Windung des Flusses hinunter schoss. Von Aras war allerdings keine Spur zu sehen, kein Schatten schimmerte dunkel im Wasser, keine Körperteile ragten aus dem Fluss heraus.
„Glauben Sie, er hat meinen Vater auch hier rein geworfen?" brach Indara die drückende Stille.
Ein derartiges Gespräch hatte Caliv vermeiden wollen, er wollte nicht dass Indara ihre Fröhlichkeit verlor.
„Ich weiß es nicht." sagte er. „Aber meine Kameraden warfen ihn hier herein und er hatte es nicht anders verdient, als von den reißenden Wassermassen verschlungen und zerrissen zu werden. Auch wenn er schon tot war."
Indara starrte wie hypnotisiert auf die tosenden Wellen.
„Glauben Sie, er ist noch bei uns?"
„Ja, das glaube ich. Er ist niemals wirklich von uns gegangen." antwortete Caliv und blickte in den wolkenlosen Himmel.
Indara griff nach seiner Hand. Sie konnte einfach nicht anders, zu sehr fühlte sie sich in diesem Moment mit ihm verbunden.
Überrascht von der plötzlichen Berührung, blickte er Indara in die Augen, dann ließ er es zu und drückte ebenso ihre Hand.
„Danke Caliv, für alles, was du tust." das erste mal hatte Indara auf die höfliche Anrede verzichtet, die sie seit Anfang an immer verwendete, wenn sie Caliv direkt ansprach.
Die Überraschung in seinem Blick war der Zufriedenheit gewichen. Langsam schien er die Situation zu begreifen.
Die braunen Augen strahlten sie hell an Caliv beugte sich langsam zu ihr herüber, um ihr einen sanften Kuss auf die Lippen zu drücken. Für einen kurzen Moment hatte er all seine Hemmungen verloren, es war gerade egal, dass er ein einfacher Soldat war und sie die Prinzessin von Lilinea.
Er ließ von ihren Lippen ab, ließ aber das Gesicht nahe an ihrem und küsste sie sogleich noch einmal, diesmal einen kurzen Moment länger und mit leichtem Nachdruck. Indara konnte und wollte nichts anderes tun als seinen Kuss zu erwidern. Ein kribbeln machte sich in ihrem Bauch und allen Gliedmaßen breit.
Schließlich ließ Caliv doch ganz von ihr ab.
„Verzeihung." murmelte er verlegen, doch Indara schüttelte leicht den Kopf und lehnte sich an ihn. Caliv verstand ihre Geste wohl genau so, wie Indara sie meinte: Es war okay. Alles was gerade passierte, war okay.
Caliv legte ihr den Arm um die Schulter und hielt sie einfach nur fest.Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit, die sie schweigend am Ufer saßen und sich umschlungen hielten. Nur ab und zu fragte Indara ihn nach vorbeifliegenden Vögeln oder vorbeikrabbelnden Käfern, die so eigenartig aussahen, dass Indara einfach ihren Namen erfahren musste. Fast alle Geschöpfe, nach denen Indara fragte, konnte Caliv benennen.
„Lass uns zurück gehen. Sonst verpassen wir noch das abendliche Festmahl." grinste Caliv irgendwann und nahm sie bei der Hand.
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Die Prinzessin von Lilinea
FantasyWas ist zu tun, wenn man als armes Mädchen in die wohl schönste und reichste Stadt der Welt bestellt wird? Indara wird aufgrund eines Briefs, von ihrem verstorbenen Vater in die goldene Stadt geschickt. Als sie im Palast Sindan, dem besten Freund i...