Vertuschte Morde

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Fassungslos saß Indara an der Felswand und spannte jeden Muskel ihres Körpers vor Zorn an. Einzelne Muskeln zitterten unter der starken Spannung, die Indara unwillentlich auf sie ausübte. Wenn sie doch nur irgendwie diese Fesseln lösen könnte! Und wo war eigentlich dieser Stock, an dem Aras mit seinem Messer herumgeschnitzt hatte? Liebend gerne würde sie ihm den spitzen Holzpfahl wie einem Zombie durch die Brust schießen. Immer unangenehmer wurde das zackige Gestein der Höhlenwand in Indaras Rücken. Die Blutung, der Wunde an ihrem Unterarm hatte inzwischen gestoppt, und Indara hoffte, dass der hauchdünne Schorf nicht erneut brach, und das dunkle Blut freigab. Ihr Arm war schon total verschmiert mit Blut.
Aras hatte sich wieder einige Meter von ihr entfernt, nur noch der blaue Schimmer des Amuletts ließ sie die Züge seines Gesichtes erkennen. Das schwarze Haar wurde vom Schatten der Höhle geschluckt. Draußen löste allmählich die Sonne Sterne und Mond in Luft auf und erstes Tageslicht ließ sich am Himmel erahnen. Jetzt, da sie wusste wer ihr Entführer war, verspürte sie noch mehr Hass und Abneigung ihm gegenüber, als sie es sowieso schon getan hatte.
„Wieso hast du meinen Vater entführt? Wieso?! Wo hast du ihn hingebracht?" Ihre Stimme klang verändert, nicht mehr so zart und seidig wie sonst, nicht wie die Stimme einer Prinzessin.
Dieser Mann hatte ihr ihren Vater genommen. Wegen ihm hatte Indara niemals die Möglichkeit gehabt ihn überhaupt kennenzulernen oder sich einmal mit ihm zu unterhalten oder einen schönen Ausflug mit ihm und ihrer Mutter zusammen zu machen. Niemals hatte sie erfahren, wie es sich anfühlte in einer heilen Familie aufzuwachsen, mit Mutter und Vater. Sie hatte immer nur eine Mutter gehabt, die Angst hatte. Angst, einen weiteren Menschen zu verlieren. Deshalb vertraute sie nichts und niemandem und konnte ich nur schwer von Indara trennen. Früher, als sie ihren Mann noch gehabt hätte, war das anders gewesen. Das sah Indara auf den Bildern, die im Palast hingen. Auf ihnen lachte ihre Mutter und strahlte aus dem Herzen heraus. Sie war früher eine andere Frau gewesen, als die, die Indara gekannt hatte. Niemals hatte sie die Wärme eines Vaters spüren dürfen. Niemals hatte sie die Stimme ihres Vaters hören können. Dass er mit ihr gesprochen hatte, als sie ein Baby war zählte nicht, daran konnte Indara sich nicht erinnern. Wie gern würde sie hören, wie er zu ihr sagte, dass alles gut werden würde. Egal, wie sich seine Stimme anhörte.

Plötzlich gab Indara Aras auch die Schuld am Tod ihrer Mutter. Sie war vor Kummer gestorben, Kummer um ihren geliebten Mann, Kummer, den dieser schrumpfhirnige Aras verursacht hatte. Sie fühlte sich, als hätte er ihr alles genommen was sie jemals gehabt und geliebt hatte. Wenn sie doch nur nah genug an ihm wäre, vielleicht würde sie ihn ja erwischen, mit dem bisschen Spielraum, den ihr die Fesseln ließen.
„Dein Vater war nicht würdig gewesen König zu sein." fing Aras an zu erzählen. Jedes Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden, Verbitterung herrschte über seine Züge.
„Er hatte mich eingestellt, zwei Jahre bevor er von der Bildfläche verschwand. Davor war ich ein armer Mann gewesen, ohne Kinder, ohne Frau, der Vieh auf einer Weide trieb. Ich klopfte an die Türen des Palastes, fragte nach Arbeit, und bekam sie. Egon war viel zu dumm und zu gutmütig für den Thron."
Das Blut in Indaras Venen wurde heiß. Die Hände ballten sich wie von selbst zu Fäusten und sie verspürte den Drang, Aras die Augen herauszukratzen. Sie riss erneut an den festgezurrten Seilen. Sie wollte einfach nicht verstehen, dass auch beim zehnten Mal die Fesseln sich nicht lösten.
Aras beachtete sie nicht, hatte ihren erbärmlichen Versuch überhaupt nicht bemerkt. Er erzählte weiter.
„Seit meinem ersten Arbeitstag habe ich ihn gehasst, den wunderbaren König. Ständig hörte er sich die Sorgen irgendwelcher Obdachlosen und Witwen an. Ich verstand nicht, wieso er sie nicht wegschickte, schließlich hatten die meisten von ihnen sich die Probleme selbst eingebrockt. Und dann ließ er auch noch diesen kleinen schwarzen Bastard von Jungen ständig im Palast herumlungern, sogar in den Garten ließ Egon den dummen Schmarotzer gehen! Ich habe ihn nie leiden können. Diese grässliche Hautfarbe, das schelmische Grinsen, das an einen Troll erinnerte. Furchtbar war dieser Junge! Aber natürlich war ich stets freundlich dem König gegenüber und habe ihm jeden Wunsch von den Augen abgelesen." die Lautstärke seiner Stimme hatte sich mit jedem Wort erhöht bis er die Worte einfach nur noch so herausschrie. Indara hörte, wie einige Vögel, die wohl in den Bäumen gesessen und geschlafen hatten, aufgeregt davon stoben. Auch Indara hätte sich die Ohren zugehalten, wären ihre Hände nicht in ihrem Rücken zusammengebunden gewesen.
Dieser Junge war kein Schmarotzer gewesen. Dieser kleine Junge war Caliv und Caliv war ihr Freund. Er hatte den Garten geliebt, weil er ihm half seine Vergangenheit zu verarbeiten. Indara konnte Caliv verstehen. Auch sie liebte den Garten schon jetzt, er strahlte diese besondere Ruhe aus und jedes Mal, wenn sie sich nahe des Brunnens aufhielt, macht sich diese vollkommene Zufriedenheit in ihr breit. Wahrscheinlich war es Caliv als Kind genau so gegangen. Er hatte die Ruhe und die Zufriedenheit gebraucht, um sein neues Leben akzeptieren zu können. Um seine Eltern akzeptieren zu können, um aufhören zu können, sie dafür zu hassen, dass sie ihn weggeschickt hatten.
Irgendwie war die Angst vollständig von Indara gewichen, sie fühlte nur noch, wie sie diesen Mann hasste, jede Sekunde ein Stückchen mehr. Dieser Mann beleidigte all die Menschen, die Indara noch wichtig waren, die für sie da waren und ihr geholfen hatten.
Als sie erneut die Hände zu Fäusten ballte, stieß etwas eckiges gegen ihren Zeigefinger. Erst dachte Indara, dass es ein Stück der Felswand war. Dann bemerkte sie aber, dass es sich hin und herschieben ließ.
Gerade wollte sie nach dem spitzen Gegenstand Tasten, als Aras ein paar Schritte auf sie zuging und weitersprach. Ihre Finger schreckten zurück, sie spürte den Gegenstand nicht mehr.
„Ich habe ganze zwei Jahre an einem Plan gearbeitet, wie ich den König stürzten könnte. Es wird nicht ausgesucht, wer König wird, Indara. Ein König wird als Prinz geboren und es ist in ihm bereits programmiert, einmal König zu werden. Und manchmal trifft das Königsein die Falschen. Die Dummen und Unfähigen. Leute wie dein Vater.
Ich habe mein ganzes Leben auf einer Wiese gearbeitet und Rind von der einen auf die andere Seite getrieben. Manchmal ist es ungerecht, als wer man geboren wird. In welche Umstände man hineingeboren wird. Ich wäre geeigneter gewesen, für den Thron, das spürte ich von Anfang an. Also hatte ich vor, den König verschwinden zu lassen und den Thron an mich zu reißen."
Indara hatte den spitzen Gegenstand inzwischen zu greifen bekommen. Es war ein Stein, der sich als äußerst spitz und scharfkantig erwies. Vielleicht konnte sie damit zumindest die Seile um ihre Handgelenke zerschneiden. Sie begann die schärfste Kante mit der rechten Hand gegen das Seil zu reiben. Dabei achtete sie darauf, kleine Bewegungen zu machen, damit Aras das regelmäßige Zucken ihres Arms nicht bemerkte.
„Ein Jahr nachdem ich angefangen hatte für deinen Vater zu arbeiten bekam er mit dieser schmuddeligen Frau ein Kind. Du, Indara, hast meinen Plan durchkreuzt. Ich wusste, der Thron würde mir nicht übergeben werden, wenn es eine leibliche Thronfolgerin gab. Ich..."
„Du hättest niemals den Thron besteigen können, niemals! Du bist krank. Du hast nicht das königliche Mal, durch deine Adern fließt kein königliches Blut!" unterbrach Indara ihn.
Er reagierte nicht auf ihren Einwurf. Stur setzte er den Satz fort, den er soeben begonnen hatte, bevor Indara ihm ins Wort gefallen war.
„Ich entwarf einen neuen Plan. Vor 19 Jahren, in einer klaren Nacht wie heute, entführte ich deinen Vater und tötete ihn mit einem gezielten Stich in die Brust. Seinen leblosen Körper warf ich in den nächsten Fluss, nachdem ich ihm das Gesicht zerkratzt hatte. Es sollte ja niemand den Armen König erkennen und einen Mord in die Welt hinausposaunen. Sofort versank Egons Körper gluckernd im Wasser. Ich musste mir keine Gedanken machen, dass jemand ihn dort fand. Fische und andere Ungeheuer, die im Wasser hausten, würden ihn ohnehin innerhalb einer Stunde zerfressen.
Ich wusste, dass du den Thron erst besteigen würdest, wenn du 20 Jahre alt bist. Bis zum heutigen Tag wohnte ich in einem Dorf weit außerhalb des Maritanischen Reichs. Dort wartete ich, bis du zurück nach Lilinea kehren würdest und ich endlich auch dich töten konnte. Vor einigen Tagen reiste ich an, und zufällig viel mir ein Brief in die Hände, aus dem ich entnahm, dass sie Krönungszeremonie noch nicht stattgefunden hatte. Also schrieb ich dir sofort den Brief, dessen Aufforderung du so brav nachgekommen bist."
Indara schmeckte Salz, aber sie dachte nicht darüber nach, wieso und woher dieser Geschmack kam. Aras hatte ihn getötet. Die ganze Zeit hatte Indara gehofft ihr Vater wäre vielleicht noch am Leben. Man hatte ihn vielleicht einfach nur entführt und ihn irgendwo eingesperrt, wo er genug zu essen und zu trinken bekam. Sie stellte sich vor wie ihr Vater tot in einem Fluss lag, mit dem Gesicht nach unten. Und wenn man ihn umdrehte, erkannte man nichts mehr von dem ehemals so freundlich aussehenden Gesicht. Das Gesicht war zerschnitten worden, brutal und herzlos. Von einem Mann der niemals etwas wie Liebe oder Zuneigung erfahren hatte. Von einem Mann, der nur wegen Indara heute nicht auf dem Thron saß. Wenn Indara nicht gewesen wäre, hätte er sich wahrscheinlich den Thron erkauft, oder ganz einfach ein gigantisches Schwert aus einer ledernen Scheide gezogen und Lilinea damit bedroht, wenn sie gegen ihn als neuen König Einspruch erhoben. Königliches Blut hin oder her. Und plötzlich fühlte Indara sich dazu verpflichtet, ihre Stadt vor diesem Mann zu schützen, und ihren Vater zu rächen. Ihrem Vater musste Gerechtigkeit widerfahren, sonst würde er aus Sorge um seine Tochter und seine Stadt wohl niemals in die ewige Ruhe finden. Indara wurde klar, Aras musste sterben oder irgendwo eingesperrt werden, in ein Gefängnis, das kein Entkommen kannte.
Aras war nahe an sie herangekommen, seine Stimme war nur noch ein leises Säuseln. Die Seile hinter Indaras Rücken lagen schon eine Weile schlaff und zerschnitten hinter ihr auf dem Boden. Ihre Handgelenke waren frei. Sie hatte es schnell geschafft die Fesseln zu lösen. Der Stein war wirklich sehr scharf gewesen, zuerst hatte Indara sich gefragt, ob sie sich irrte und doch ein Messer in den Händen hielt.

Blitzschnell schlug Indara mit der Faust zu, und traf Aras mit aller Wucht mitten ins Gesicht.
Verdammt, sie hatte nicht daran gedacht ihm das Amulett vom Hals zu reißen! Nach einigen Sekunden merkte sie allerdings, dass das überhaupt nicht nötig gewesen war. Aras taumelte zurück und fiel zu Boden, das Amulett knallte auf den harten Grund und zersplitterte in etliche Teile. Augenblicklich verschwand der blaue Schimmer. Das Amulett lag leblos und kaputt auf dem Boden.
So schnell sie konnte griff Indara nochmals nach dem Stein, um ihre Fußfesseln zu durchtrennen. Erst jetzt war sie sich wirklich sicher, dass es ein Stein war. Er war von dunklem Gestein, hatte dieselbe Farbe wie die Felswände. Wahrscheinlich war der Brocken aus der Wand herausgebrochen und hatte deshalb so scharfe Kanten.
Gleich hatte sie es geschafft, gleich war sie frei und würde schreiend und nach Hilfe rufend aus der Höhle stürmen.
Doch da schlug Aras ihr den Stein aus der Hand. Er hatte sich aufgerappelt und war mit einem seltsamen Hechtsprung auf sie zugesprungen. Der Stein landete mehrere Meter, außerhalb der Reichweite von Indaras Armen auf dem Boden. Aras bemerkte, dass der blaue Schimmer fehlte, und um seinen Hals nichts mehr baumelte. Suchend blickte er sich um, dann entdeckten seine wütend blitzenden Augen das zerstörte Amulett, das seinen Glanz und auch seinen Schutz verloren hatte. Nun war es nichts als ein wertloses Schmuckstück, dass zu Bruch gegangen war.

„Was fällt dir ein, du widerliches Miststück!" brüllte Aras.
„Ich werde dich ebenfalls töten, genau wie deinen dummen Vater, du elendige Kröte! Und weißt du was das Beste daran ist?" Aras hielt ihr den Dolch vor das Gesicht und zeigte auf die Gravur, die Indara vorhin schon entdeckt hatte. Bis jetzt hatte sie nicht erkennen können, was darauf geschrieben war. Sie konnte nicht einmal sagen, wie viele Worte in das Metall graviert worden waren.
„Die ganze Stadt wird denken, es war der schwarze Bastard, wenn sie seinen Dolch finden, der mitten im Herz der Prinzessin steckt."
Ihr Gesicht verlor auf einmal die Fassung und Indara starrte auf die Gravur, die reich an Schnörkeln war. In der polierten Klinge, spiegelte sich Indaras Gesicht, das tränenüberströmt - wann hatte sie denn geweint?! - und geisterbleich war.
Caliv Trumban
In der  unteren rechten Ecke der Klinge, war Calivs Name eingraviert.
„Wo...woher hast du den?" und zum ersten Mal fühlte Indara keine unbändige Wut, keinen beißenden Zorn, sondern nichts als gähnende Leere in sich, die drohte, sich niemals wieder zu füllen.

Die Prinzessin von LilineaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt