Lara und Florian

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Mein ganzer Kopf ist voller Gedanken. Gestern noch saß ich in der Schule und habe meine Matheklausur geschrieben und jetzt verstecke ich mich in einem Schrank. Ich höre wie die Person, welche ich mein gesamtes Leben für meinen Vater hielt, mit einer Person redet, welche schon lange tot sein sollte. Ein Chefarzt, welcher sich 2007 in einer Gefängniszelle das Leben nahm. Ich weiß nicht was ich machen soll. Befinde ich mich wirklich im Jahr 2007? Für den Moment bleibt mir nichts anderes übrig, als mich weiterhin zu verstecken.

"Vielen Dank für ihr Vertrauen. Sie werden es sicherlich nicht bereuen und ihre Tochter wird in der Lage sein, in Zukunft ein normales Leben zu führen", mit diesen Worten beendet der ältere Mann das Gespräch. Sie verlassen gemeinsam das Büro. Ich bewege mich langsam aus meinem Versteck und versuche den Schock hinter mir zu lassen. Ich kann immer noch nicht glauben, was ich gerade gehört habe, aber mir bleibt keine Zeit um lange darüber nachzudenken. Ich sehe auf dem Schreibtisch die Unterlagen welche mein "Vater" gerade unterzeichnet hat.

"Einweisungsprotokoll vom 12. Oktober.2007 für die Patientin "Lara Wolfahrt", geboren am 12.05.2002 in Rabenfeld. Die Patientin wird absofort in der Kinderpsychiatrie "zur alten Birke" behandelt. Sie weißt starke Verhaltensstörungen auf und wird mit dem Mord ihrer Tante Johanna Wolfahrt in Verbindung gebracht, welche am 1. Oktober.2007 in ihrer Wohnung bei einem Feuer ums Leben kam, während sie ihre Nichte betreut hat. Lara Wolfahrt blieb bei diesem Vorfall unverletzt."

Dieses Dokument stammt eindeutig aus dem Jahr 2007. Es gibt keine Zweifel mehr, dass ich mich im Jahr 2007 befinde. Aber wie ist das möglich? Zeitreisen gibt es doch nur im Fernsehen oder in Videospielen. Und wer ist Lara Wolfahrt? Sie trägt meinen Nachnamen, aber ich habe noch nie in meinem Leben von ihr gehört. Meine Schwester, zumindest die Schwester, von der ich dachte, dass sie meine Schwester ist, heißt eindeutig Mia. Und von einer Tante mit dem Namen Johanna habe ich auch noch niemals etwas gehört. Ich muss mehr herausfinden.

Ich verlasse das Büro und schaue mich um. Überall hängen Bilder an den Wänden, von Ärzten und Urkunden. "Beste Kinderpsychiatrie im Jahr 2005" heißt es auf einer Urkunde. Nachdem was ich im Jahr 2019 so gehört habe, scheint das wohl mehr Schein als Sein zu sein.

Ich verstecke mich hinter jeder Ecke und lausche, ob sich jemand auf den Gängen bewegt.
Plötzlich sehe ich einen Mann im Arztkittel den Gang entlang kommen. Ich traue meinen Augen kaum. Dieser Mann ist eindeutig der Mann, welcher mich in der Villa fast geschnappt hätte.

Keine Zweifel, es ist Dr. Markow, Sarahs Vater. Er begibt sich zu einem Bücherregal am Ende des Ganges und dreht sich um. Es scheint so, als wolle er sicher gehen, dass ihn niemand sieht.
Und so ist es auch. Aus seinem Arztkittel nimmt er eine Art Fernbedienung, dessen Knopf er betätigt. Das Bücherregal verschiebt sich und hinter diesem kommt eine Tür zum Vorschein, welche sich nur mit einem Zahlencode öffnen lässt. Dr. Markow gibt seinen Code ein und begibt sich durch die Tür, hinter welcher eine lange Treppe nach unten führt.

Die Tür schließt sich langsam. Gerade als ich loslaufen möchte, um die schließende Tür zu erreichen, packt mich eine Hand am Arm. Nun ist die Tür wieder verschlossen und das Bücherregal schiebt sich vor die Tür. In mir breitet sich eine riesige Angst aus. Wurde ich geschnapp? Ist jetzt alles vorbei? Was passiert jetzt mit mir? Ich drehe mich um und dort sehe ich sie. Das Mädchen mit den schwarzen Haaren und den grünen Augen. Das Mädchen, welches mich an diesen Ort geschickt hat.

"Willst du ihm wirklich einfach so folgen, komplett ohne Plan? Kannst du nicht eine Sekunde ruhig bleiben? In der Villa hätte er dich schon fast geschnappt, denkst du in seinem geheimen Labor hast du bessere Chancen, nicht von ihm geschnappt zu werden?", sagt sie mit vorwurfsvoller Stimme, noch bevor ich auch nur anfangen kann, etwas zu sagen.

"Du bist Lara Wolfahrt, richtig?", frage ich sie.
"Darauf bist du aber schnell gekommen", antwortet sie mir etwas spöttisch.
"Ich habe viele Fragen an dich.." - "Und ich werde sie dir auch beantworten", unterbricht sie mich. "Doch nicht hier. Hier haben wir nicht die Zeit dazu. Komm mit, ich muss dir etwas zeigen."

Sie geht vor und ich folge ihr vorsichtig. Ich habe immer noch große Angst, aber spüre auch Erleichterung in mir. Auf der einen Seite bin ich in einer Zeit, in der ich nicht sein dürfte, mit einem Mädchen, welches mehr Fragen aufwirft als alles andere. Auf der anderen Seite, bin ich erleichtert, dass ich hier nicht mehr alleine bin. Ich weiß nicht, ob ich ihr wirklich vertrauen kann, aber ich weiß, dass ich keine andere Wahl habe, als ihr zu folgen.

Sie bleibt an der Tür eines Patienten stehen. "Hier, schau durch das Fenster der Tür. Keine Sorge, man kann dich auf der anderen Seite nicht sehen", sagt sie mir. Scheinbar ist es dasselbe Prinzip wie bei der Polizei. Wenn man einen Verdächtigen wiedererkennen soll, er einen auf der anderen Seite aber nicht sehen kann.

Ich schaue durch das Fenster und sehe einen kleinen, schwächlichen Jungen, welcher mit einem halbkaputten Spielzeugauto spielt. Er scheint etwa um die 4 Jahre alt zu sein. Mein Kopf fängt an zu schmerzen und Tränen fließen mir aus den Augen. Ich weiß nicht woher dieses Gefühl kommt. "Das ist normal. Die Schmerzen gehen wieder weg", versucht Lara mich zu beruhigen.

"Warum zeigst du mir einen kleinen Jungen, haben wir keine anderen Sorgen? Und warum geht es mir so schlecht dabei..?", frage ich sie. "Du hast es wohl immer noch nicht verstanden. Ich dachte nach allem, was du herausgefunden hast, würdest du selber auf das Ergebnis kommen".
Lara zeigt mit ihrem Finger auf das Namensschild, welches neben der Patiententür hängt.

Ich schaue auf das Namensschild und das Blut in meinen Adern gefriert. Ich habe in den letzten Stunden viele unglaubliche Dinge erlebt, doch das setzt dem ganzen die Krone auf.

"Florian Markow", sage ich, "wie soll das bitte möglich sein? Das kann nur ein unglaublich schlechter Scherz sein". "Ich wünschte es wäre einer. Ich wünschte das alles hier wäre nur ein unglaublich schlechter, grausamer Scherz. Doch dies ist mein Leben. Und ebenso deins", erwidert Lara.

Ich muss mich unter Kontrolle bringen. Am liebsten würde ich irgendetwas eintreten oder einfach nur laut losschreien. Tränen der Wut und der Verzweiflung laufen an meinen Wangen entlang. "Ich kann deine Gefühle nachempfinden, Florian. Aber wir müssen diesen Ort verlassen. Hier können wir nicht weiter reden, die Zeit läuft ab. Ich werde dir noch alles erzählen. Du weißt, wo du mich findest", sagt Lara.

"Was meinst du damit? Und wie kommen wir hier raus?", frage ich sie. "Nun, so wie wir hierher gekommen sind", antwortet sie.

Sie legt ihre Hände wieder um meinen Kopf und meine Augen verlieren sich erneut in ihren.
"Nein, Lara, bitte nicht schon wied..."

...

"RING, RING, RING - Zeit zum Aufstehen! RING, RING, RING - Los Schlafmütze! RING".

Ich liege in meinem Bett. War das alles nur ein weiterer Traum? Ich schalte den Wecker ab. Heute liebe ich ihn für seinen Klingelton, denn er gibt mir das Gefühl zuhause zu sein. Ich schaue auf mein Handy und sehe 2 neue Nachrichten. Hannah und "Unbekannt".

Hannah: "Hey Florian, warum hast du dich gestern nicht mehr gemeldet? Michael macht sich auch Sorgen um dich. Ich verstehe ja, dass der Unterricht langweilig ist, aber so einfach geht das nicht! Meld dich mal bei mir, wenn du die Nachricht liest! "

Unbekannt: "Hallo Florian. Ich habe deine Nummer durch die Schülerliste, welche Herr Jadas mir gegeben hat. Ich wollte mich nochmal dafür bedanken, dass du mich gestern nach Hause gebracht hast. Wir sehen uns in der Schule. Liebe Grüße, Sarah. :)"

Ich lasse mich nach hinten auf mein Bett fallen und versuche Ruhe einkehren zu lassen.
Das war heute der mit Abstand anstrengendste Tag in meinem Leben.

Und es wird noch viel anstrengender werden.


Das Mirage Experiment #Wattys2019Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt