Kapitel 4

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Sie schaute zum Kombi hinüber und sah, dass der Junge sie noch immer anstarrte. Unter Aufbietung aller Willenskraft zwang sie sich, das Lenkrad loszulassen. Seelischer Schmerz konnte einen Menschen in den Wahnsinn treiben. Das hatte sie irgendwo gelesen. Aber sie würde nicht zulassen, dass ihr etwas derartiges widerfuhr. Sie musste hart gegen sich sein. Sie durfte sich einfach nicht erlauben, auf Dannys Rückkehr zu hoffen. Sie hatte ihn von ganzem Herzen geliebt, aber er war nicht mehr da. Verdammt, er war tot!

Zusammen mit vierzehn anderen Jungen war er bei dem tragischen Busunglück ums Leben gekommen, war bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt worden. Tot.  Er lag in einem Sarg unter der Erde, für immer. Ihre Unterlippe zitterte. Nur mit großer Mühe konnte sie die Tränen zurückhalten. Der Junge im Chevrolet hatte das Interesse an ihr verloren und fixierte jetzt wieder den Ausgang des Supermarktes. Tina stieg aus ihrem VW-Käfer. Die Nacht war angenehm kühl. Sie holte tief Luft und betrat das Geschäft. Drinnen war es viel zu kalt,  und die Leuchtstoffröhren waren viel zu grell. Sie kaufte einen halben Liter Magermilch und einen Laib Weizenbrot, der für Diäthaltende in besonders dünne Scheiben aufgeschnitten war. Obwohl sie keine Tänzerin mehr war, sondern jetzt als Intendantin von Shows hinter den Kulissen arbeitete, fühlte sie sich doch physisch und psychisch am besten, wenn sie ihr früheres Gewicht hielt. Fünf Minuten später war sie zu Hause. Sie machte sich zwei Scheiben Toast, bestrich sie mit Erdnußbutter, goß sich ein Glas kalter Milch ein und setzte sich an den Küchentisch. Toast mit Erdnußbutter hatte seit jeher zu Dannys Lieblingsspeisen gehört. Schon als ganz kleiner Junge hatte er 》Adusputter《 haben wollen. Sie schloß die Augen und sah ihn deutlich vor sich drei Jahre alt, Mund und Kinn mit Erdnußbutter beschmiert, er lachte ihr zu und rief: 》Mehr Adusputtertoss, bitte! 《 Sie öffnete rasch die Augen, denn sein Bild war viel zu lebendig, und sie wusste genau, dass sie sich nicht ihren Erinnerungen ausliefern durfte. Aber es war viel zu Spät. Sie hatte einen Kloß im Halse, und ihre Unterlippe begann wieder zu zittern. Sie ließ ihren Kopf vornüber auf den Tisch sinken und brach in Tränen aus. In dieser Nacht träumte sie, dass Danny am Leben sei. Irgendwie. Irgendwo. Er lebte. Und er brauchte sie.

In ihrem Traum stand Danny am Rande eines tiefen Abgrunds und Tina stand ihm gegenüber auf der anderen Seite der Schlucht und blickte zu ihm hinüber. Danny rief nach ihr.  Er war allein und fürchtete sich. Sie war verzweifelt, weil sie nicht wußte wie sie zu ihm gelangen könnte. Der Himmel wurde mit jeder Sekunde dunkler;  dichte düstere Sturmwolken verdrängten das letzte Tageslicht.  Dannys Schreie und ihre Antworten wurden immer schriller und angstvoller, denn sie wußten beide, dass sie vor Einbruch der Nacht zusammenkommen mußten, wenn sie  einander nicht für immer verlieren wollten.  Die Nacht hielt etwas Schreckliches für Danny bereit. Etwas Grauenvolles lauerte ihm auf und würde ihn erwischen, wenn er im Dunkeln allein war. Plötzlich zerriß ein Blitz den Himmel, und danach trat totale Finsternis ein und ein heftiger Donnerschlag krachte. Tina Evans setzte sich abrupt im Bett auf,  überzeugt davon, ein Geräusch im Haus gehört haben.  Es konnte nicht der Donner aus ihrem Traum sein.  Sie hatte dieses Geräusch in dem Moment wahrgenommen als sie aus ihrem Alptraum aufgeschreckt war, ein reales Geräusch, kein Produkt ihres Unterbe-  wußtseins.  Sie lauschte angespannt,  bereit, beim leisesten Laut aus dem Bett zu springen, aber im Haus blieb alles völlig still. Allmählich stiegen Zweifel in ihr auf.  Sie war in letzter Zeit übernervös.  Dies war nicht das erste Mal, daß sie nachts einen Einbrecher zu hören glaubte.  In den vergangenen zwei Wochen war ihr das ein halbes Dutzend mal passiert, und jedesmal, wenn sie nach der Pistole auf dem Nachttisch gegriffen und mit der Waffe in der Hand ein Zimmer nach dem anderen überprüft hatte, war kein Eindringling zu finden gewesen. Sie stand in letzter Zeit unter starkem seelischen Druck sowohl beruflich als auch im Privatleben. Vielleicht war das Geräusch das sie gehört hatte, doch nur der Donner aus ihrem Traum gewesen. Sie spannte noch eine Zeitlang ihre Sinne an, aber die Nacht war so ruhig, dass ihr Herzklopfen nachließ. Niemand außer ihr selbst hielt sich im Haus auf.

Die Augen der DunkelheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt