Kapitel 6

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Vor fünf Jahren, an ihrem achtundzwanzigsten Geburtstag war ihr jedoch zu Bewußtsein gekommen, daß sie nur noch etwa zehn Jahre lang als Tänzerin gefragt sein würde, und sie beschloß, sich im Showbusiness einen neuen Aufgabenbereich zu suchen, um nicht mit achtunddreißig auf der Straße zu stehen. Sie fand eine Stelle als Choreographin einer billigen Foyer- Revue, einer blassen Imitation der Lido-Shows, und sie war dort nach kurzer Zeit auch für die Kostüme verantwortlich. Danach führte sie erfolgreich eine Reihe ähnlicher Jobs aus, zuletzt in den kleinen Revuetheatern für vier- bis sechshundert Zuschauer, die es in den zweitrangigen Hotels mit begrenzten Show-Budgets gab. Nach gelungenen selbständigen Inszenierungen mehrerer Revuen machte sie sich rasch einen Namen in der Unterhaltungsbranche von Las Vegas, und seit damals wußte sie, daß der Durchbruch zum ganz großen Erfolg für sie kein unerfüllbarer Traum bleiben mußte. Vor einem knappen Jahr, kurz nach Dannys Tod, erhielt sie dann das verlockende Angebot, zusammen mit dem berühmten Joel Bandiri eine wirklich aufwendige Bühnenshow zu inszenieren, die drei Millionen Dollar kosten würde und im prächtig ausgestatteten, zweitausend Zuschauer fassenden Theatersaal des Desert Mirage aufgeführt werden sollte, eines der größten Luxushotels am Strip. Sie empfand es irgendwie als pietätlos, daß sie diese großartige Chance erhielt, noch bevor sie richtig Zeit gehabt hatte, um ihren Sohn zu trauern, man hätte fast glauben können, das Schicksal wollte sie mit dieser einmaligen Gelegenheit für Dannys Tod entschädigen. Trotz des Gefühls einer tiefen Leere und Sinnlosigkeit, trotz ihrer Verbitterung und Trauer nahm sie das Angebot an. Sie wußte, dass Sie es annehmen mußte, um ihren Schmerz überwinden zu können. Wenn sie sich dieser Herausforderung nicht stellte, wenn sie nur zu Hause herumsaß oder bei kleineren und leichteren Inszenierungen mit wirkte, würde sie zuviel Zeit zum Grübeln haben, und dann würde sie den Verlust ihres Kindes nie verwinden. Die neue Show hatte den Titel Magyck!, weil zwischen den großen Tanznummern verschiedene hervorragende Varietémagier auftraten und auch die Tanzszenen selbst die übernatürlichen Mächte zum Inhalt hatten. Die originelle Schreibweise des Titels war nicht Tinas Einfall gewesen, der größte Teil des Programms hingegen beruhte auf ihrem Ideenreichtum, und sie war stolz auf ihre Leistung, allerdings auch erschöpft. Sie hatte im vergangenen Jahr zwölf bis vierzehn Stunden täglich gearbeitet, ohne Urlaub, mit nur wenigen freien Tagen. Aber obwohl Magyck! sie so stark in Anspruch genommen hatte, war es ihr sehr schwer gefallen, sich mit Dannys Tod abzufinden. Eigentlich hatte sie erst vor einem Monat zu glauben begonnen, daß ihre Trauer nun bewältigt sei. Zu dieser Zeit hatte sie erstmals an den Jungen denken können, ohne in Tränen auszubrechen, und sie hatte sogar sein Grab besuchen können, ohne hysterisch zu werden. Sie hatte sich im großen und ganzen wieder leidlich gefühlt, war mitunter sogar heiter gewesen. Ihr war bewußt daß sie Danny niemals vergessen würde, dieses bezaubernde Kind das eine so überaus wichtige Rolle in ihrem Leben gespielt hatte, aber sie hatte geglaubt, daß die Wunde, die sein Tod aufgerissen hatte, inzwischen fast verheilt wäre. Ja, das hatte sie vor nunmehr einem Monat geglaubt, und diese Hoffnung hatte zwei Wochen angehalten. Und dann begannen die Träume. Und sie waren noch schlimmer als jene, die sie nach Dannys Tod gehabt hatte. Vielleicht waren ihre Ängste in bezug auf den Erfolg von Magyck! schuld daran, daß die Wunde nun wieder schwärte. In weniger als siebzehn Stunden 20 Uhr im Desert wurde Mirage Hotel vor geladenen wichtigen Persönlichkeiten die Premiere stattfinden, und am folgenden Abend, an Silvester, würde die Show erstmals für das normale Publikum zugänglich sein. Falls die Zuschauerreaktion so enthusiastisch ausfiel, wie Tina es hoffte, dürfte ihre finanzielle Zukunft gesichert sein. Sie würde vertragsgemäß zweieinhalb Prozent der Bruttoeinnahmen, abzüglich der verkauften Getränke, erhalten, sobald die ersten drei Millionen eingespielt waren. Wenn Magyck! ein Hit wurde und drei Jahre lang lief, was bei erfolgreichen Shows in Vegas durchaus vorkam, würde sie nach Ablauf dieser Zeit Millionärin sein. Sollte die Produktion sich allerdings als Reinfall erweisen, würde sie vermutlich gezwungen sein, wieder in den Kleinen Revuetheatern zu arbeiten. Im Showbusiness herrschten gnadenlose Gesetze.

Die Augen der DunkelheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt