Montag, 08:53 Uhr
Es war tatsächlich eine Torte. Eine Torte, für ihren Geburtstag, die David bestellt und sogar bis aufs Hotelzimmer hatte liefern lassen. Kittie erkannte es an der Schachtel, die sie durch den Türspalt erspähte. Er hatte ihr gesagt, sie solle im Zimmer bleiben, als der Lieferdienst kam und auf keinen Fall irgendeinen Laut machen. Er war tatsächlich ein wenig nervös gewesen, scheinbar so begeistert davon ihr dieses Geschenk zu präsentieren. Aber Kittie hatte überhaupt kein Interesse daran. Sie hatte die halbe Nacht nicht geschlafen und wenn, dann nur unruhig. Sie hatte immerzu an ihre Mutter im Krankenhaus gedacht und hin und wieder an ihren Vater.
Und daran, dass sie für immer an David gekettet sein würde. An diesen Mann, der sie niemals wieder allein irgendwohin lassen würde. Nicht auf den Balkon, nicht ins Schwimmbad und sicher auch nicht auf die Straße. In Spanien, ja natürlich. Aber das war Quatsch. Denn dorthin würden sie nicht kommen. Es war ein leeres Versprechen und sie war sich immer sicherer, dass auch David das wusste. David war so clever, so vorausschauend. Wenn schon ihr diese Tatsache klar war, dann ihm erst recht. Was bedeutete, dass er sie anlog. Dass er sie in Sicherheit wiegte, damit sie nicht ging. Damit sie bei ihm blieb, damit er sich nicht der Polizei stellen musste und damit er nicht allein war.
Davids Versprechen für immer bei ihr zu bleiben, erschien ihr plötzlich wie eine Drohung. Für immer. Ihr ganzes Leben lang. Irgendwann, gegen halb drei, hatte sie sich die alles entscheidende Frage gestellt: Wollte sie weiterhin bei David bleiben? Die Antwort war Nein. Nicht wenn er sie anlog, wenn er sie nicht nach draußen ließ, wenn er sie ihre Eltern und alle anderen niemals wiedersehen ließ. Würde er sie gehen lassen? Die Antwort war ebenfalls Nein.
Jetzt saß sie auf ihrem Bett und wartete. Sie hörte Davids Stimme, etwas höher und hastiger als sonst, aber freudig. Dann die Stimme einer Frau, wahrscheinlich die Lieferantin. Ein absurder Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Was wenn sie um Hilfe schreien würde? ‚Hilfe, ich bin nicht freiwillig hier, helfen sie mir!' Sicher würde die Frau nicht hineinkommen. Sicher würde David sie nicht lassen. Aber sie würde die Polizei rufen. Nur war die Frage, was David dann tun würde. Er wäre enttäuscht. Sie würde ihn ausliefern. Sie würde ihr Versprechen brechen, sie würde ihn zu einem schrecklichen Schicksal verdammen. Das durfte sie nicht. Und da war ja auch noch die Waffe. David hatte schon einmal auf die Polizei geschossen. Es hatte ihn aus der Bahn geworfen, ja, aber nicht so sehr wie es sollte. Inzwischen war sie sicher, dass er es wieder tun konnte. Sie wäre dann genauso schuld wie er.
Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Sie hörte wieder die Stimme der Frau, sie brauchte eine Unterschrift von David. Sie musste sich entscheiden und zwar jetzt! Aber sie konnte nicht. Es fühlte sich an als hätte man ihr Herz auseinandergerissen, in zwei Hälften, die völlig unterschiedliche Takte schlugen. Eine dieser Hälften war falsch, das wusste sie. Aber welche?
Die Frau verabschiedete sich von David. Kittie sprang ruckartig auf, aber blieb still. Und dann hörte sie die Tür ins Schloss fallen. Der Moment war vorbei, ihre Chance war vorbei. Sie setzte sich wieder und lauschte auf das Rascheln aus dem Nebenzimmer. Sie schloss die Augen. „Du kannst jetzt kommen, Geburtstagskind!" rief David. Sie brauchte einen Moment um sich zu sammeln. Dann stand sie auf und ging hinüber.
Der Glastisch, auf dem sie gestern gegessen hatten, war voll mit Kerzen. Kleine Teelichter, die einen flackernden Schein auf die Torte in der Mitte warfen. Es war eine dreistöckige Torte, mit Marzipanblumen und Blättern auf einer himmelblauen Glasur. Die Ränder waren mit silbrig glitzernden Perlen bedeckt, die 15 darauf bestand aus einer Art weißer, glänzender Creme. Unwillkürlich erinnerte sie sich an die Schokotorte auf Hannas Geburtstag, aber die war keine Konkurrenz für dieses Meisterwerk. Daneben lag ein kleines, flaches Päckchen mit einer roten Schleife darum.
„Und?" David sah sie erwartungsvoll an „Gefällt es dir?" Sie presste die Lippen zusammen und zwang sich zu einem Lächeln. „Aber klar. Die Torte ist... super." David seufzte gespielt. „Du willst gar nicht wissen, was die gekostet hat." „Nee, wirklich nicht. Nach der Sache mit dem 50€ Kugelschreiber." Sie versuchte zu lachen, aber es klang hohl und es machte ihr Angst. Also hörte sie sofort wieder auf. David schien nichts zu bemerken. Sie sollte ihr Geschenk aufmachen, das wusste sie. Also riss sie die Schleife ab und dann das Papier auf. David war irgendwohin verschwunden, um ein Messer für den Kuchen zu holen. Sofort merkte sie wie ihr Gesicht erschlaffte und das Lächeln und die gespielte Aufregung wie weggewischt waren. Langsam zog sie das Geschenkpapier von der weißen Schachtel. Kopfhörer. David musste sie am Samstag gekauft haben. Sie öffnete die Box. Und einen Moment, einen winzigen Moment, freute sie sich sogar. Sie hatte immer richtige Kopfhörer haben wollen, nicht nur die kleinen Ohrstöpsel.
David tauchte wieder auf, ein Buttermesser in der Hand. „Wir haben hier kein anständiges Messer. Da müsste ich in der Küche fragen gehen..." „Ah, das geht schon." Sie nahm es ihm aus der Hand. Sein Blick fiel auf die Kopfhörer. „Ich weiß, es ist nicht viel. Aber ich wollte nicht so lange draußen unterwegs sein, das verstehst du sicher. Aber wir holen deine Geburtstagsgeschenke nach, versprochen." Sie nickte verständnisvoll. „Wollen wir den Kuchen anschneiden?" fragte er und zog zwei Stühle heran. „Klar."
Montag, 10:03 Uhr
„Wo? Wo, genau arbeiten Sie?" Elisa zog eilig einen Notizblock zu ihr hinüber und schnappte sich einen Bleistift. „Im Romans. Aber ich bin mir nicht sicher, wirklich nicht." „Das macht gar nichts." beruhigte Elisa ihn, obwohl sie selbst alles andere als ruhig war. Herr Strauss kam in ihr Büro gestürmt, Marianne hatte ihm also bescheid gesagt und sie nickte ihm zu. ‚Das ist wirklich was. Wirklich ein ernstzunehmender Hinweis' sagte ihr Nicken. Er verstand sofort. „Ich möchte niemanden verdächtigen, nicht mutwillig und auch nicht..." fuhr der Mann am Telefon fort. „Keine Sorge, das kann Ihnen nicht negativ ausgelegt werden. Wir werden Ihrem Hinweis natürlich nachgehen." Elisa verabschiedete sich und der Mann schien froh, dieses Gespräch beenden zu können.
Inzwischen hielt sich die gesamte Sonderkommission entweder im Büro oder auf dem Gang davor auf. Herr Strauss hob eine Augenbraue. „Er ist Koch im Romans Hotel, er fährt zur Arbeit über die Schweizer Grenze" verkündete sie „Die Beschreibung die er mir von dem Mann gegeben hat, trifft ziemlich genau auf David Hais zu." Der Leiter der Kommission nickte. „Es passt. Die Entfernung passt, sie sind sicherlich mit dem Zug gefahren. Auch die Tatsache, dass er Deutschland verlässt, passt zu seinem bisherigen Vorgehen." warf Lucas ein.
Elisa stand auf. Das konnte es sein. Das konnte diesmal wirklich etwas sein. Natürlich bekamen sie genügend Anrufe, vor allem nach der öffentlichen Fahndung. Aber nur die ernstzunehmenden wurden überhaupt zu den Mitgliedern der Sonderkommision durchgestellt. Und dieser war vielversprechend. Vielleicht war es ein Strohhalm, an den sie sich klammerte, aber sie hatte das Gefühl, dass das ihre, vielleicht letzte, Chance war. Sie sah zu Herr Strauss. „Informieren Sie die Leute vor Ort. Sie sollen das Hotel nicht aus den Augen lassen. Aber sie sollen, verdammt nochmal, diskret sein. Er ist bewaffnet und hat eine Geisel." Elisa nickte und Richard hastete los. „Wir fahren dahin. Jetzt sofort."
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Die Lügen in unseren Versprechen
General FictionKittie ist jung und verwickelt in illegale Geschäfte. David hat alles verloren und sucht verzweifelt etwas dass das Loch schließt, das der Tod seiner Tochter hinterlassen hat. Sie können sich genau das geben, was sie brauchen. Doch aus Freundschaft...