Epilog

3 1 0
                                    

05. Februar 2018, 14:09 Uhr

Das Erste was David spürte war die Wärme. Warme Luft auf seiner Haut und das Gewicht einer Decke auf ihm. Einen Moment verharrte er einfach so. In der Dunkelheit, aber mit dem wunderbaren Gefühl der Wärme. Er hätte noch länger so daliegen können, so friedlich. Ein Luftzug drang an seine linke Hand. Und ganz leicht bewegte er seinen kleinen Finger. Er lebte. Er konnte sich bewegen und er konnte fühlen. Er war immer noch hier.

Da war ein Geräusch. Neben ihm ein leises Rascheln, wie Papier. Es klang wie das Umblättern von Seiten.

Vorsichtig, ganz zaghaft blinzelte David. Und aus dem Augenwinkel nahm er jemanden neben sich war. Eine kleine Gestalt.

Als David die Augen öffnete, blätterte sie gerade die nächste Seite um. Das Mädchen saß auf einem Stuhl mit einem Buch auf ihrem Schoss. Einem weißen Klappstuhl. Sie hatte die Beine überschlagen und eine Winterjacke auf die Stuhllehne gehangen. Das Zimmer um sie herum war ebenfalls weiß.

‚Krankenhaus' schoss es ihm durch den Kopf. Er war im Krankenhaus. Aber sie war keine Krankenschwester. Sie trug Sneakers, eine enge blaue Jeans und ein weißes Oberteil. Und las immer noch. David blinzelte noch einmal. Langsam lichtete sich der Schleier, der über seiner Wahrnehmung lag. Neben ihm begann eine der Maschinen mit einem elektrischen Piepsen. Ein langanhaltender, nervenaufreibender Ton.

Sie sah auf. Ihre Augen weiteten sich, die Überraschung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Einen Moment sah sie ihn einfach an, dann fasste sie sich. Sie schlug das Buch zu und stand auf. Noch etwas begann zu piepsen, ein wenig leiser als das erste und in einer anderen Frequenz. Das Mädchen nahm ihre Jacke vom Stuhl und klemmte sich das Buch unter den Arm. Sie wirkte auf einmal wieder ganz ruhig und entspannt. Viel entspannter als er. So als würde sie etwas wissen, was er nicht wusste. Er drehte den Kopf zu ihr und starrte sie an.

„Mach's gut, David."

sie drehte sich um. Sie sollte hierbleiben! Er wollte unbedingt, dass sie blieb. Dass sie bei ihm blieb, für immer. Aber sie ging. Er verfolgte jeden ihrer Schritte und hatte das Gefühl zwischen ihnen würde sich ein Abgrund auftun, der mit jedem Schritt wuchs. Ob er verschwinden würde, wenn sie stehen blieb? Sie blieb nicht stehen. Er wollte nach ihr rufen, aber er hatte keine Stimme, die er hätte benutzen können. Er öffnete den Mund und nichts kam heraus.

Die Tür wurde vor ihrer Nase aufgerissen und drei Menschen stürmten hinein. Alle drei in weiße Kittel gekleidet. Und in diesem Moment kam alles wieder. Alles stürmte auf ihn ein, mit einer Wucht die ihn zu erdrücken drohte. Er schnappte nach Luft und schloss die Augen. Er musste sich sortieren. Er wünschte er hätte mehr Zeit gehabt, aber die hatte er nicht mehr. Die hatten sie nicht mehr.

„Kit..." er räusperte sich. „K..." er war zu leise, er wollte doch mit ihr sprechen! „Kittie!" es klang heiser und seine Stimme war leise, aber immerhin.

Kittie blieb stehen. drehte sich wieder um, zu ihm. Die Ärzte waren jetzt da und fingen an den Katheder in seinem Arm zurechtzurücken und auf die Tasten der Maschinen zu drücken. Aber es war ihm egal. Sollten sie machen was sie wollten. Alles was wichtig war, war sie. Wie sie dort stand und ihn ansah. Die Augenbrauen ein wenig hochgezogen, wie sie es immer tat. Ihre Haare waren wieder blond, diese eine Strähne hing ihr immer noch ins Gesicht. Aber etwas war anders, sie war anders. Sie war älter. Die Polizei würde gleich kommen, das wusste er. Und dann wäre es endgültig vorbei. Jemand stach schmerzhaft in seinen Arm.

„Kittie, kannst du mir verzeihen?"

Er musste sie das fragen und nun war die letzte Gelegenheit.

Sie starrte ihn an. Waren das Tränen in ihren Augen? Weinte sie? Wenn ja, dann war er schuld daran. Aber dann schlich sich wieder dieses wunderschöne Lächeln auf ihr Gesicht. Dieses freche und zuckersüße Lächeln. „Ja."

Dann ging sie. Sein Herz zerbrach in tausende Scherben, zu viele um sie je wieder einzusammeln. Sie sollte doch bleiben. Aber er wusste jetzt, dass sie es nicht konnte.

Sie würde niemals bei ihm bleiben. Weil er ihr wehgetan hatte. Weil er niemals wieder gut machen konnte, was er getan hatte. Weil sie anzulügen bei weitem nicht das Schlimmste gewesen war. Weil er etwas in ihr gesehen hatte, was sie niemals gewesen war. Weil sie besser dran war ohne ihn. Trotzdem wollte er sich aufsetzen, um ihr länger mit seinem Blick folgen zu können. Wie sie die über die Schwelle schritt, hinauf auf den Flur. „Bitte bleiben Sie liegen." Er wurde wieder hinab gedrückt. Er konnte ihre Schritte hören wie sie auf dem Gang wiederhallten. „Ist die Polizei schon informiert?" fragte jemand.


14:23 Uhr

Kittie lief die Straße hinunter und verstaute das Buch in ihrer Tasche. Sie blinzelte vorsichtig um die Tränen zu vertreiben. Es gelang ihr nicht. Sie hatte gewusst, dass der Moment kommen würde. Sie hatte regelrecht darauf gewartet, es sich meistens sogar gewünscht. Sie war diesen Moment in Gedanken hunderte Mal durchgegangen. Wie sie Hallo sagen würde, wie sie sich verabschieden würde, wie sie gehen würde. Aber es war etwas anderes es dann auch zu tun. Diesen allerletzten Schlussstrich dann auch zu ziehen.

Es war nicht so als wäre sie nicht weitergegangen, das war sie, aber nie ohne sich umzudrehen. Damit würde jetzt Schluss sein. David zu besuchen war ihre Art gewesen sich zu verabschieden. Alles abzuschließen. Ihre Psychotherapeuten hatte ihr sogar dazu geraten. Trotzdem hatte ihr Vater es niemals gutgeheißen, aber er hatte sich nicht getraut es seiner Tochter zu verbieten. Und inzwischen glaubte er sie wäre bei einer Freundin zu Besuch, der sie in Geographie helfen würde.

Sie schmunzelte. Es würde das letzte Mal gewesen sein, dass sie für sich und David gelogen hatte. Seltsam. Es war schön gewesen bei ihm zu sein. Mit ihm zu sprechen. Zu wissen, dass er irgendwie nicht tot war, dass er ihr vielleicht sogar zuhörte. Solange nur einer von ihnen lebte und einer sich irgendwo zwischen Leben und Tod befand, hatte es funktioniert. Aber jetzt wo er ganz und gar nicht mehr tot war, musste sie gehen Denn sie beide konnten nicht zusammen leben. Kittie nahm ein Taschentuch aus ihrer Jackentasche und putze sich die Nase.

Erinnerungen an die letzten zwei Jahre wirbelten unsortiert in ihrem Kopf herum, als sie aus der Straßenbahn ausstieg. Sie war unzählige Male bei der Polizei gewesen. Bei ihrem Anwalt. Und hin und wieder sogar bei ihrer Mutter in der Klinik. Sie hatte Angst gehabt auf die Straße zu gehen, Angst vor den Menschen, die vielleicht ihr Gesicht erkennen könnten, vor den Reportern, die sie vielleicht fotografieren würden. Anfangs hatte sie sich hin und wieder gewünscht, dass David bei ihr gewesen wäre. Dass er mit ihr bei den im Gericht gestanden hätte, dass er mit ihr verhört worden wäre. Einfach weil seine Gesellschaft sich vertraut anfühlte. Sie war sich sicher gewesen, er hätte alles so viel besser hinbekommen als sie, mit seinem Charme und seiner schönen Ausdrucksweise. Dass er alles hätte so viel besser erklären können. Aber dann hatte sie erkannt, dass sie sich etwas vormachte. Dass David nichts besser gemacht hätte, so wie er es nie getan hatte.

Denn David hatte genug damit zu tun um sein Leben zu kämpfen. Und sie tat das auch, auf ihre eigene Art. Sie kämpfte für ihr Leben, für ein bisschen Normalität. Und sie hatte es geschafft, ganz allein. Sie hatte ihn nicht gebraucht.

Sie war zu ihrem Vater aufs Land gezogen und hatte sich ein riesiges Bücherregal zugelegt. Und eine kleine Katze. Sie war kaum nach draußen gegangen, hatte stattdessen gelesen. Anfangs hatte sie nur so getan als würde es ihr in ihrem neuen Leben gefallen. Als wäre alles in Ordnung. Aber irgendwann hatte sie auch wieder damit aufgehört. Weil es keinen Grund gab, etwas vorzuspielen, was tatsächlich immer mehr Wirklichkeit wurde. Sie mochte ihren Papa. Er war nicht da gewesen als sie ihn gebraucht hatte und er würde nichts mehr daran ändern können, dass sie inzwischen niemanden mehr brauchte, aber seine Entschuldigungen waren ehrlich gewesen.

Kittie schloss die Haustür auf. Bestimmt hatte Papa keine Zeit gehabt zu kochen. Bestimmt würde er ihr gleich sagen, dass es zum Abendbrot wieder Pizza gab. Wie erwartet stand er in der Küchentür, grinsend, mit der Karte des Lieferdienstes in der Hand. „Hallo, Kathi." „Hi, Papa."

Die Lügen in unseren VersprechenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt