22. September 2016

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Donnerstag, 23:02 Uhr

Er war schon wieder da. Es hatte ihm eigentlich nicht mal besonders gut gefallen, die Musik war absolut nicht nach seinem Geschmack und die Tänzerinnen interessierten ihn nicht. Trotzdem saß David am selben Tisch wie schon gestern und schnippte gegen die Flasche vor ihm. Sie saß schon seit geraumer Zeit mit einem Typen am Tresen, der ihr offenbar ein Bier spendiert hatte. David musste sich eingestehen, dass er nur wegen dieser Kellnerin wieder her gekommen war. Kittie. Sie trug ihre Haare wieder offen und schob sich hin und wieder eine blonde Strähne aus dem Gesicht und steckte sie hinters Ohr. Emi hatte das auch immer getan. Er hatte gescherzt sie solle sich die Haare doch abschneiden, aber sie hatte gelacht und mit „Niemals!" geantwortet. Kitties Haare waren auch nur einen Ticken heller als Emis es gewesen waren. Der Typ beugte sich jetzt zu ihr vor und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Der belästigte sie doch nicht etwa? Hastig trank er den letzten Schluck in der Flasche aus. „Noch ein Bier, bitte!" er hob den Arm. Und tatsächlich rutschte sie von dem hohen Barhocker hinunter und kam auf ihn zu. „Klar. Kommt gleich."

Sie kaute heute Kaugummi und der leichte Geruch nach Minze haftete an ihr, als sie sich zu ihm beugte. Vielleicht sollte er ein Gespräch mit ihr beginnen? „Kittie, wie sieht's aus?" Mist, er war ihm zuvor gekommen. „Komme gleich!" sie machte auf dem Absatz kehrt und kletterte zurück auf den Barhocker. David fiel auf wie klein sie war. Selbst für eine Frau war sie sehr klein. Wie alt war sie eigentlich?

Kittie spuckte ihren Kaugummi in den Papierkorb in der Umkleide. Eigentlich war es gar kein Papierkorb, nur ein alter Blumentopf, den Vicky einmal aufgestellt hatte. Oder war es Angelina gewesen? Der Mann von der Bar ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie hätte niemals geglaubt dass so jemand ein Freund von Torben war. Er war so viel freundlicher gewesen und intelligenter. Er passte überhaupt nicht zum dämlichen Torben.

Der Haargummi in ihrer Handtasche war zerrissen. Mist. Sie holte ihre Ohrstöpsel raus und wollte gerade die Musik anmachen, als ihr Chef aus seinem Büro auf den Gang heraus trat. Er kam nicht in die Umkleide. Stattdessen blieb er im Türrahmen stehen. „Kittie, komm bitte mal. Wir müssen reden." Sofort machte ihr Herz einen Satz. Er war doch nicht unzufrieden mit ihr? Vielleicht hätte sie heute nicht so lange an der Bar sitzen sollen? Sie nahm die Ohrstöpsel wieder raus und folgte ihm in das winzige Büro am Ende des Ganges.

„Ganz ehrlich, ich hab das Gefühl du hängst hier eher rum als dass du arbeitest. Ich will nicht dass du hier deine Zeit vergeudest nur weil du ohne den Job nicht reinkommen würdest." Sie schluckte. „Ich passe besser auf in nächster Zeit." „Das hast du mir beim letzten Mal auch gesagt, als du mit irgendwem vor der Bar gehockt hast. Kittie das läuft so nicht." „Das waren 10 Minuten!" erwiderte sie erzürnt. „Sie sagen doch immer ich soll nett zu den Gästen sein!" Er stand von seinem alten Bürostuhl auf und sein Ton wurde um einiges schärfer. „Jetzt komm mir nicht so, Kittie! Du solltest dankbar sein dass du den Job hast. Ich gehe ein Risiko ein und das weißt du!" Ja, das wusste sie. Aber trotzdem wollte sie sich nicht grundlos anpflaumen lassen. „Ich hab doch gesagt ich passe auf!" Ihr Chef schlug mit der Hand auf den Tisch und sie zuckte zusammen. „Wenn du mich noch weiter nervst wars das! Wann lernst du endlich dir was sagen zu lassen du scheiß-verzogene Göre?!" Kittie spürte die Tränen in ihr aufsteigen. Ob vor Wut oder Schreck wusste sie nicht. „Und jetzt mach dass du raus kommst, dann überleg ichs mir vielleicht!" Das ließ sie sich nicht zweimal sagen.

Verzogene Göre hatte er sie genannt. Sie hastete über den Gang nach draußen. Sie wollte einfach nur raus hier. Verzogene Göre. Was wusste der schon? Der wusste gar nichts über sie, dachte sie trotzig. Trotzdem rannen ihr die Tränen jetzt die Wangen hinab. Sie musste den Job doch behalten! Sie und Ma brauchten doch das Geld! Sie verließ das Haus, schlängelte sich zwischen den Leuten hindurch und verschwand um die nächste Ecke.


Donnerstag, 23:49 Uhr

David hatte sich bereits ein Taxi gerufen. Er hätte natürlich auch mit der Bahn fahren können, so spät war es immerhin noch nicht. Aber er hatte keine Lust sich mit irgendwelchen Besoffenen in einer Bahn zu befinden. Da war ein Taxi doch wirklich die angenehmere Alternative.

Erst sah er nur wie jemand in dem Gedränge um die Ecke kam. Ein sehr kleiner Jemand. Er wollte gerade wieder weg schauen, die Straße runter, um hoffentlich bereits sein Taxi zu sehen, da erkannte er sie. Kittie! Und sie rannte. Sie rannte und weinte. Im Licht der Laterne neben ihm blieb sie stehen und suchte etwas in ihrer Tasche. Ihr Make-Up war verschmiert, das Mascara klebte an ihren Wangen. Sie schniefte. „Entschuldige. Kittie, oder?" Sie sah auf. „Was willst du?" es klang nicht gerade freundlich. „Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich kenne dich aus der... ähm, Gaststätte in der du arbeitest. Du erinnerst mich an jemanden." Sie lächelte ein kleines bisschen. „Das ist keine Gaststätte." „Ich weiß. Brauchst du ein Taschentuch?" Sie hörte auf in ihrer Tasche zu kramen und streckte die Hand aus. Er zog die Packung Taschentücher aus seiner Aktentasche und reichte sie ihr. „Du kannst die Packung ruhig behalten." „Danke." Sie schnaubte ein paar Mal geräuschvoll.

„Wohin musst du?" Kittie umklammerte immer noch die Packung als das Taxi vor ihr hielt. „Schützerstraße." kam die leise Antwort. „Wenn du magst kannst du mitfahren. Ich setze dich unterwegs ab." David hätte erwartet dass sie ablehnen würde. Dass sie sagen würde sie könne alleine gehen, oder dass sie schlicht nicht mit einem fremden Mann irgendwohin fahren würde. Allerdings arbeitete sie ja auch im gefährlichsten Viertel der Stadt und einige der Kunden in ihrem Etablissement waren wohl auch nicht ganz unbescholten. Trotzdem hätte er nicht erwartet dass sie einfach in das Taxi steigen würde. Aber genau das tat sie. Sie kletterte über den linken Sitz auf den rechten und stellte ihre Tasche auf den Boden. David setzte sich neben sie und nannte dem Fahrer die Adresse.

Kittie starrte seit einigen Minuten aus dem Fenster und schniefte hin und wieder. Sie tat ihm leid. Ihre Haare hingen zerzaust in ihr Gesicht und sie sah wirklich kläglich aus. David hatte den unerklärlichen Drang sie in den Arm zu nehmen. So wie er es immer mit Emi getan hatte, wenn sie weinte. Das letzte Mal war es wegen eines Streites mit einer Freundin gewesen, die Emi schon sehr lange gekannt hatte. Das war doch das letzte Mal, oder? Oder hatte sie dort geweint, in dieser schrecklichen Nacht? Nicht daran denken. Nicht jetzt.

David bemerkte das Kittie aufgehört hatte zu weinen. Und dass sie ihn jetzt ansah. Den Kopf leicht zur Seite geneigt, sie hatte sich die Haare aus dem Gesicht gestrichen, aber das Make-Up klebte immer noch daran. „Darf ich fragen was dich zum Weinen gebracht hat?" Sie schluckte und einen Moment dachte er sie würde es nicht erzählen wollen. Was für ein Recht hatte er auch zu fragen. „Mein Chef. Er sagt ich bin eine verzogene Göre." Dann sprudelte es aus ihr heraus als wäre ein Damm gebrochen. „Ich habe so Angst diesen Job zu verlieren. Aber das Geld...also, das Geld ist wichtig. Für mich und meine Mutter und ich weiß sonst einfach nicht was ich machen soll. Ich finde keinen anderen Job, mich stellt doch keiner ein. Nur als Praktikantin oder so..." eine einzelne Träne rann wieder ihre Wange hinab. „Und der Chef hat doch keine Ahnung. Der weiß gar nichts über mich, was bildet der sich ein... Glaubst du ich bin verzogen?" „Nein." Kittie nickte, als wäre es selbstverständlich. „Natürlich nicht." David wusste nicht mehr was er sagen sollte. Er hätte ihr wirklich gern einen Rat gegeben, aber Geldsorgen waren etwas womit er sich nie hatte herumschlagen müssen. „Weißt du, ich glaube du bist sehr tapfer. Sehr mutig und sehr clever. Genau wie diejenige an die du mich erinnerst. Ich meine nicht jeder würde sogar so einem Job machen, um Geld für seine Familie zu verdienen." Kitties Augen weiteten sich. „Wow, ähm, Danke. Eigentlich ist der Job ja auch nicht scheiße. Ich mag es. Vielleicht ist es meine Art wegzulaufen."

Der Taxifahrer hielt. David widerstrebte es das Gespräch hier zu beenden, trotzdem hob er ihre Tasche hoch und drückte sie ihr in die Hand. „Ich denke du musst hier raus." Kittie nahm die Tasche und dann lächelte sie. „Das zu erzählen hat eigentlich ganz gut getan." Sie öffnete die Tür und stieg aus. Bevor sie sie allerdings wieder schloss, beugte sie sich ein Stück vor. „Wie heißt du eigentlich?" „David." „Dann gute Nacht, David." Sie schlug die Tür zu.

Die Lügen in unseren VersprechenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt