09. Oktober 2016

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Sonntag, 08:19 Uhr

„Inzwischen sind zehn Tage seit dem Verschwinden von Katharina Steuer vergangen. Die Hoffnung das junge Mädchen lebend zu finden schwindet, auch auf Seiten der Polizei." Kittie nahm noch einen Schluck Kakao und begann dann ihr Brötchen in den Rest zu tauchen. „Aus vertraulichen Quellen haben Reporter des RBB erfahren, dass ihre Mutter sich inzwischen in medizinischer Behandlung befindet, welcher Art ist unbekannt." Sie erschrak. Medizinische Behandlung? Was war passiert? War Ma wieder in der Entzugsklinik? Oder hatte sie etwa versucht...Kittie traute sich kaum es auch nur zu denken.

Der süße Kakao hinterließ einen ekelhaften Nachgeschmack in ihrem Mund und sie hatte das Bedürfnis auszuspucken. Ihre Hand schnellte zu ihrem Mund als sie würgen musste. „Ihr Vater hat noch vor wenigen Tagen gesagt, dass er die Hoffnung nicht aufgibt seine Tochter wieder zu sehen. In seinem Statement bei der Wonners-Talkshow hatte er sich für seine vergangenen Fehler entschuldigt." Kittie biss sich auf die Unterlippe und kämpfte immer noch gegen den Drang an, sich auf den Tisch zu übergeben.

„Und an dieser Stelle gebe ich an meinen Kollegen Henry mit dem Wetter ab. Ich wünsche Ihnen einen erholsamen Sonntag!" Sie starrte das Radio feindselig an, als würde dass das Gerät dazu bewegen ihr noch mehr Informationen zu geben. Wo war Ma? Ging es ihr gut? Wartete ihr Papa immer noch auf sie? Oder glaubte er inzwischen wirklich sie sei sicherlich tot? Das hätte sie traurig machen müssen, aber es ließ nur ein hohles Gefühl in ihr aufkommen. ‚Ich bin hier! Ich bin hier, ich lebe noch!' schrie sie in Gedanken, als würde es die Menschen irgendwie erreichen. Zum ersten Mal seit Tagen dachte sie ganz kurz an Hannah. Und an die Schule.

„Können wir das Radio ausmachen?" riss David sie aus ihren Gedanken. „Klar." Gutmütig drehte sie am Regler. Sie würde heute eh nichts mehr hören, was sie beruhigen konnte. David setzte sich ihr gegenüber und streckte eine Hand nach ihr aus. „Du bist ja total zerzaust! Wie eine struppige Katze!" Er grinste und sie drehte ihren Kopf ruckartig weg. David erstarrte in der Bewegung. „Ich gehe meine Haare kämen." Sie sprang auf, als wäre sie auf der Flucht.

Kittie begutachtete ihr Gesicht im Spiegel. Ihre Haare waren irgendwie trockener und spröder geworden. Vielleicht kam es durch die neue Farbe, vielleicht durch etwas anderes. Sie sah zum ersten Mal Augenringe bei sich selbst. Ein bisschen wie Ma. Ma, die jetzt irgendwo in einem Krankenhaus lag.

Während sie... Ja, was tat sie eigentlich? Sie saß mit David in einem Hotel und wartete auf den Tag an dem sie in ihr neues Leben aufbrechen würden. An dem sie endlich ihre Ruhe haben würden und sich alles zum Guten wenden würde. Wenn sie endlich zusammen sein konnten, für immer. Schlagartig erkannte Kittie, dass dieser Tag nicht kommen würde. Sie starrte ihr Gesicht im Spiegel an. Ratlos.

Das wird nicht passieren.

Wir werden nicht nach Spanien gehen, wir haben keine Pässe, die wir verwenden könnten. Ihr Blick fiel auf die Brille neben dem Waschbecken. Werden Vermisstenmeldungen nicht in ganz Europa herausgegeben? Wie sollten sie da von irgendeinem Flughafen aus abfliegen? Sie konnten an jedem Bahnhof kontrolliert werden, überall. Wie sollte sie in Ausland klarkommen, ohne einen Ausweis? Und Kittie wollte nicht verstecken spielen. Sie wollte auf den Balkon gehen. Und sie wollte ihren Vater kennenlernen. Es war dieser Wunsch, den sie seit einigen Tagen versucht hatte zu verdrängen. Doch jetzt brach er aus ihrem Inneren hervor, wie ein Vulkan und sie würde ihn nicht mehr zur Seite schieben können.

Langsam öffnete sie die Badtür und schloss sie wieder ordentlich. Sie straffte ihre Schultern, schob die lästige Strähne hinters Ohr und ging zurück zum Tisch. „Magst du das letzte Stück Melone?" David hielt es über ihren Teller, bereits es fallenzulassen, falls sie es essen wollte. Aber das wollte sie nicht. „Wir gehen nicht nach Spanien, stimmt's?" Sie sah David direkt in die Augen. Er erwiderte ihren Blick und sie versuchte ihr Gesicht so ausdruckslos wie möglich aussehen zu lassen. Bloß nicht die Fassung verlieren. „Wie kommst du darauf?" fragte er schließlich. „Weil es quasi unmöglich ist. Ich hab keinen Pass, ich werde bestimmt in ganz Europa gesucht!" sagte sie fest.

Die Lügen in unseren VersprechenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt