[Fortune Files] Wenn ein Diener in ein fremdes Mädchen vertraut

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Ich brauchte kein Hellseher zu sein, um zu bemerkten, wie sehr der Chef auf das Menschenmädchen abfuhr. Schade eigentlich. Seit sie uns das erste Mal mit ihrer Anwesenheit beehrt hatte, war er wie ausgewechselt. Ich hatte ihn noch nie so wenig schimpfen gehört. Selbst als Olivia, eine meiner Kolleginnen, keine Antwort auf irgendwelche Ungereimtheiten in den letzten Bilanzen vorweisen konnte, beherrschte er sich und bat sie nur, auf Ursachensuche zu gehen.

Dasselbe war schon einmal vor einem Jahr passiert. Er vermutete damals, sie könne selbst dahinterstecken, was in einer seiner „Audienzen" endete, so wie jüngst bei Peter. Keiner kam aus einem solchen Vieraugen-Gespräch als die Person wieder heraus, als die er es betreten hatte. Oftmals hätte wohl auch nur eine einfache Standpauke ausgereicht, doch Rova ließ es sich niemals nehmen, unfolgsames Verhalten auch körperlich zu züchtigen. Manchmal wunderte ich mich darüber, wieso ihm trotzdem immer wieder genügend Gründe geliefert wurden, damit er seine Bestrafungen durchführen konnte. Mein bester Erklärungsversuch lautete, dass Gehorsam nicht wirklich in unserer Natur lag, zumindest in der anderer Vampire, schließlich hatte ich mir noch nie etwas zu Schulden kommen lassen.

Neben den ausbleibenden cholerischen Anfällen fiel mir noch etwas anderes auf. Mein Herr, den ich bisher nur in drei Stimmungsvarianten kennengelernt hatte: gelangweilt, genervt und verärgert, oder auch alle drei gleichzeitig, lächelte, wenn dieses Mädchen bei uns war. Ich hatte mich bei meinen älteren Kollegen umgehört, ob sie das bei ihm schon mal erlebt hätten. Er schien die Dienerschaft oft zu wechseln, denn am längsten dabei war besagte Olivia, mit gerade einmal fünf Jahren, doch auch sie war erstaunt.

„Unser Herr ist unnahbar. Stell nicht zu viele Fragen, sonst bist du der Nächste, der bei ihm vorsprechen darf",

warnte sie mich. Damit gab ich mich nicht zufrieden. Es musste doch etwas über ihn herauszufinden sein. Ich suchte nach ehemaligen Untergebenen, die ich nach ihm befragen konnte. Die meisten lehnten es von vornherein ab, aber schließlich fand ich zwei, die noch in der Nähe wohnten und einen, mit dem ich telefonischen Kontakt aufnehmen dufte, ... über eine verschlüsselte Leitung, weil er befürchtete, abgehört zu werden. Die Gespräche, die ich führte, waren unerwartet krass. Rovas frühere Diener waren auch nach Jahrzehnten noch eingeschüchtert, denn vor ihrem Rauswurf schien er jeden ein letztes Mal zu disziplinieren.

Das erste Mal in meinem Leben sah ich eine Narbe an einem Vampir. Einer meiner Interviewpartner zeigte scheu auf die alte, aber noch deutlich sichtbar vernarbte Wunde an seinem Oberarm, die er schnell wieder unter der Kleidung versteckte. Sie war nur einen Zentimeter groß und sah aus, als wäre irgendetwas tief in sie hineingebohrt wurden. Ich musste schwören, niemanden davon zu erzählen. Erst danach war er bereit, mir zu berichten, dass Rova eine Chemikalie dazu verwendet habe, um diesen bleibenden Schaden überhaupt hinterlassen zu können.

Spätestens an dieser Stelle wurde mir klar, dass ich es mir mit meinem Herrn nicht verscherzen durfte. Auch die anderen Lucards schienen privat nicht weniger brutal zu sein, wenn ich den Worten meiner Telefonquelle Glauben schenken durfte. Ich dachte kurz darüber nach, wie einfach mein Leben in meiner Heimat bei den Don Velas in Soria gewesen wäre. Mal ein bisschen Wache schieben oder den Chauffeur spielen, dafür auch noch mit Respekt behandelt werden und das alles in einer der idyllischsten Städte Europas. Aber... nein, das war so überhaupt gar nichts für mich. Ich war beim Hochadel schon ganz gut aufgehoben. Wer, wenn nicht ich, oder?

Für einen so mächtigen Mann wie Rova war ich natürlich nur ein kleiner Fisch und trotzdem verband uns etwas ganz Entscheidendes: Ein leidenschaftliches Verlangen nach demselben Menschenmädchen. Das war nicht unbedingt die hilfreichste Parallele. Ein Diener durfte die Liebste seines Herrn bewundern, aber nachsteigen sollte er ihr nicht. Ich fasste den Entschluss, dass es nicht so weitergehen konnte. Dieses duftende, unwiderstehliche Wesen musste ganz schnell wieder aus meinem Schädel heraus, denn sie bedrohte meine ganze Karriere, alles wofür ich bisher gearbeitet hatte. Das sagte auch meine Mutter, der ich alles am Telefon gestand.

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