[Fortune Files] Wie ein Diener seine Rolle nicht akzeptiert

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Der erste Vollmond, den ich in Lyz' Gegenwart durchmachen würde, ereilte mich nur einen Tag nach dem Streit mit ihr. Ich reagierte schon immer vergleichsweise heftig auf Mondphasen, ein bisschen mehr als andere Vampire jedenfalls, deshalb hatte ich mich auch schon die ganze Zeit vor dieser Konstellation gefürchtet. Obwohl ich davon nie etwas bemerkt hatte, schwor mir Sari damals, dass der Vollmond auch auf Rova großen Einfluss ausüben würde. Ihre weiblichen Reize waren es allerdings nicht, auf die er reagierte.

Wenn sie zu Vollmonden bei ihm abgeblitzt war, also jedes Mal, rief sie danach eigentlich immer mich an, mitunter sogar mitten in der Nacht und bestellte mich zu sich. Wahrscheinlich mochte sie es, wie der Vollmond meine Grenzen verschob. Ich wurde nicht gewalttätig oder bekam merkwürdige Vorlieben wie manch anderer. Ich war einfach nur offener, sprach aus, was ich wirklich dachte und wurde wohl auch etwas leidenschaftlicher. Was ich ihr an solchen Tagen und Nächten sagte, war mal mehr und mal weniger nett. Besonders viel reden, wollte sie dann aber eh nicht. Dieses lüsterne Weib wollte etwas ganz anderes, und zwar überall in der Villa. Rova erwischte uns mehr als einmal in flagranti. Meist tat er so, als hätte er nichts bemerkt, zu Beginn ein komisches Gefühl, aber ich gewöhnte mich irgendwann daran.

Nur einen einzigen Vollmond hatte Sari damals mit mir ausgelassen, den Blutmond. Das war der einzige Tag, an dem eine Vampirfrau geschwängert werden konnte. Ich malte mir in meinen Träumen aus, sie zu verführen und ihr einen kleinen Halbspanier in den Bauch zu setzen. Mein Nachkomme, ein Lucard, es gab nichts Größeres für mich... Wie naiv ich war. Der Abstand zu meiner Beziehung mit ihr führte mir nun einmal mehr vor Augen, was ich wirklich für sie war, etwas, dass ich niemals sein wollte, nämlich ihr Liebesdiener, nicht mehr als ein netter Zeitvertreib. Eigentlich wusste ich das die ganze Zeit über und fand es okay, weil sie immer lieb zu mir war und doch hinterließ es nun schmerzhafte Spuren, die an meinem Selbstbild nagten. Nicht ohne Grund hatte ich mich bewusst gegen dieses Ausbildungsprofil entschieden.

Ihr Tod kam mir vor, als sei er eine Ewigkeit her, tatsächlich waren es aber erst fünfeinhalb Wochen. Trotz meiner Erkenntnis über meine vermaledeite Rolle in ihrem Leben, vermisste ich sie jeden Tag. Ich liebte ihr ansteckendes Lachen und ihre verquere, unerschütterlich positive Weise, die Welt zu betrachten. Mit ihren Augen zu sehen, bot mir jedes Mal neue Perspektiven. Dieses Mädchen hatte mich für immer verändert.

Meine Fresse, war meine Stimmung im Keller. Wenn ich morgens schon mit dem falschen Fuß aufstand, steckte ich mir normalerweise Kopfhörer ins Ohr und tauchte in irgendwelchen geilen Gitarrensoli ab, die ich mir vorstelle, nachspielen zu können. Das war so'n Luftgitarren-Ding… Seit ich wegen Lyz aber auf jeden Mucks achten und immer wachsam bleiben musste, war Musik als Kanal für meine miese Laune leider gestorben. Was 'ne Scheiße! 

Angepisst warf ich einen Blick auf mein Handy. 7:35 Uhr, Zeit Lyz abzuholen, aber darauf blinkte noch etwas anderes. Eine Nachricht von Talina, meiner Freundin aus der Ausbildungszeit. Sie schickte mir zu jedem Vollmond ungefragt versaute Bilder oder beschrieb irgendwelche Praktiken für gemischte, aber auch gleichgeschlechtliche Paare. Was sollte ich damit, du perverse Trulla!? Mann! Das war wohl ihre Macke. Ich sah mir ihr hautfarbenes Bild nicht wirklich an, klickte auf Antworten und schrieb ihr zurück:

"Lass die Scheiße!"

Danach sperrte ich ihre Nummer. So lief es eigentlich jeden Monat ab. Keine Ahnung, warum sie das tat, aber es ging mir gehörig auf den Keks. 

Genervt von allem und jedem ging ich hinaus in den Flur des Studentenwohnheims, wo ich durch meine geschärften Sinne den betörenden Duft des Prinzesschens durch ihre verschlossene Tür hindurch witterte. Für einen Augenblick löste das eine wohltuende Entspannung aus, lange genug, um meine tristen Gedanken beiseitezuschieben. Zuerst schwebte ich geradezu, bis Lyz ebenfalls auf den Flur in mein Blickfeld trat und für eine pure Reizüberflutung sorgte.

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