Direkt am nächsten Tag trat mein Chef zum ersten Mal als unser Dozent auf. Seine Vorlesung hören zu dürfen, empfand ich trotz allem als großes Privileg. Sein Vortragsstil und die Tiefe seines Wissens waren hervorragend und machten ihn aus dem Stand zu unserem besten Dozenten. Das war wohl seine Art, Lyz zu zeigen, dass er für sie da war. Er hatte eine komische Vorstellung von der Entstehung von Zuneigung oder Liebe, aber ich hatte weder den Wunsch noch die Position, ihn über diesen Fehler aufzuklären. Am Resultat würde das ohnehin nichts ändern, denn es war mir vorbestimmt, sie mir vor der Nase wegschnappen zu lassen.
Am Abend besuchte er mich in meinem kleinen, schlichten Zimmerchen. Ich zuckte in meinem Bett zusammen, als er von selbst die Tür aufschloss, denn bis zu diesem Zeitpunkt wusste ich nichts über seinen Zweitschlüssel.
„Ich bin hier, um dich über die Lage zu informieren",
erklärte er und kam zu mir, ohne sich die Mühe zu machen, seinen dunklen Mantel auszuziehen. Vor Lyz hatte er mir keine Details über Peters Zustand verraten und ich war ziemlich neugierig. Immer noch etwas verwirrt über sein plötzliches Auftauchen, erhob ich mich aus meinem Bett, während er zu meinem Schreibtisch abbog und meine Mitschriften der Vorlesungen musterte, die ordentlich in beschrifteten Heftern darauf langen. Er strich sanft mit der Hand darüber und sprach währenddessen mit mir.
„Ich habe Peter mit Gewalt wecken müssen. Er hat ein Schädel-Hirn-Trauma davongetragen und leidet unter einer retrograden Amnesie."
„Verstehe",
entgegnete ich knapp. Rova wirkte zufrieden damit, was mich hätte freuen sollen, doch stattdessen fühlte ich mich weiterhin nur schuldig. Er witterte meine Verunsicherung wahrscheinlich, denn er fragte:
„Gibt es ein Problem?",
während er sich wirsch zu mir umdrehte. Mir schwirrte immer wieder diese eine Frage im Kopf herum und es war besser, sie zu stellen, um Rova zu beruhigen, bevor er auf dumme Gedanken kam.
„Woher kommt das Blut, von dem sich die Abtrünnigen ernähren?"
Er billigte meine Frage und beantwortete sie umfangreich, aber nicht ohne meine Reaktion dabei genauestens zu beobachten.
„Hat er dir das Märchen von einer friedlichen Welt erzählt, in der Vampire und Menschen Hand in Hand durch die Nacht spazieren? Magnas Werbelügen reichen bis über den Atlantik, so wie die einer Sekte. Ich will es dir verraten, Alexander. Es stimmt, dass sie die Jagd verboten hat, aber glaub nicht, dass sich die Abtrünnigen deshalb zivilisiert verhalten. Wer es sich leisten kann, hält sich Sklaven, die er im Keller oder sonst wo ankettet und sich ihrer nach Lust und Laune bedient. Für Verweigerer gibt es Blutkonserven, aber meine Schwester unterhält kein Spendennetzwerk, so wie wir es tun. Deren Konserven werden aus Blut von Gefängnisinsassen gewonnen, ein martialischer Gedanke. Ekelerregend, sich davon ernähren zu müssen, findest du nicht auch?"
Ich verzog angewidert das Gesicht, da das klang, als würden sie Menschen wie Vieh behandeln. Auch Pete hätte das nicht gefallen, aber er würde ohnehin nie wieder auf freien Fuß geraten. Dafür wusste er zu viel. Ich sagte nichts dazu, da meine spontane Reaktion vollkommen ausreichte. Rova hielt mich trotzdem fixiert, wohl aber wegen seiner darauffolgenden Frage.
„Du hast ihr nichts darüber gesagt, was wir sind, richtig? Ist es ihr gestern Nacht aufgefallen?",
„Nope, glaub nicht oder sie stellt sich dumm",
antwortete ich frei heraus, woraufhin er die Stirn in Falten legte.
„Schirmst du sie auch ordentlich nach außen ab, damit sie keine Freundschaften aufbaut?"
„Selbstverständlich!"
Er kam auf mich zu, tippte mir ein paarmal auf die Brust und raunte:
„Auch gegen deine?"
„Sie hat Sari umgebracht, wie könnte ich...?",
stammelte ich und log ihm damit dreist ins Gesicht, ... scheiße, vielleicht nicht ganz unbemerkt, denn er bohrte seinen Fingernagel unzufrieden in den Stoff meines Shirts und zog daran. Dann beugte er sich zu mir und stoppte erst kurz vor meinem Gesicht.
„Ich hoffe es für dich",
hauchte er mir mit tiefer Stimme drohend entgegen. Fuck, war der Typ zum Fürchten! Rova ließ mich überdeutlich spüren, wie schwach ich im Vergleich zu ihm war. Erst danach stieß er mich hart zurück, doch immerhin landete ich auf meinem weichen Bett, das mich federnd abfing. Ich hatte mich noch nicht einmal wieder aufgerichtet, da wendete er sich schon so geschwind zur Tür um, dass sein Mantel hinter ihm in der Drehung wehte. Dass ich eine kinoreife Pose wie diese so aus der Nähe betrachten durfte, war richtig genial. Scheinbar fand ich den Typen sogar cool, wenn er mich aufmischte. Ich hatte eben auch ein kleines Rad ab.
Trotzdem war ich froh, als ich sah, dass Rova die Hand schon auf der Türklinke liegen hatte. Leider hielt er inne, anstatt endlich zu verschwinden. Mit dem Kopf ins Profil gelegt, blickte er hinter sich zu mir. Verdammt, dieses Mal war ich mir sicher, dass er meine Lüge durchschaut haben musste, so grottig wie sie war. Meine Alarmglocken übertönten fast seine zaghaft zögerliche Frage.
„Was... sagt sie über mich?"
Ich setzte mich wie in Zeitlupe aufrecht hin. Mich beschlich die Gewissheit, dass dies mein Ende bedeutete. Beim SOLV zeigte er seine verletzliche Seite nämlich immer kurz vor einem Ausbruch massiver Aggression. Ich musste ruhig bleiben, keine zu hektischen Bewegungen machen, ihn bloß nicht provozieren. So vorsichtig ich konnte, antwortete ich:
„Sie stellt Fragen über dich und den Verein. Ich glaube, sie kapiert nicht so richtig, was los ist. Sie hatte niemanden, um den Schock zu verarbeiten und verdrängt gern die Fakten. Wenn du mich fragst, lebt sie einfach so vor sich hin."
Rova drehte sich leider wieder vollständig um und lief schnurgerade auf mich zu. Seine Aura war furchteinflößend. Verdammt, irgendetwas an meiner Antwort war falsch, aber was? Ich dachte angestrengt nach. Wieder packte er mein Shirt am Kragen, diesmal aber mit der ganzen Hand und zog mich auf die Beine. Er sah mir tief in die Augen und fauchte mich mit gedämpfter Stimme an:
„Du weichst wir aus. Wieso? Was sagt sie über mich?!"
Ich gab alles, seinem Blick standzuhalten und antwortete so selbstverständlich, wie ich konnte:
„Ich hab keine Ahnung. Dank dir bin ich nur der Typ, der immer hinter ihr herdackelt. Sowas erzählt sie mir nicht."
Diesmal war die Antwort besser, denn er schob mich wieder von sich. Trotzdem hielt er mich noch fest, vielleicht falls er es sich noch anders überlegen wollte.
„Richtig",
seufzte er nach ein paar verunsichernden Sekunden. Dann lockerte er seinen Griff und klopfte mir beschwichtigend auf den zerknitterten Stoff auf meiner Brust. Er nickte einmal, drehte sich dabei von mir weg und verschwand endlich aus meinem Zimmer.
Ich blieb verstört zurück. Mein Herz raste und es dauerte bestimmt eine Viertelstunde, bis ich die Starre überwinden und mich wieder auf mein Bett setzen konnte. Ich sah an mir herunter auf meine Hände, die langsam wieder aufhörten zu zittern. Ganz unwillkürlich ballte ich sie zu Fäusten und schlug mir damit auf die Beine.
Ich war mir nicht sicher, ob er mich irgendwann einfach mit einem plötzlichen Hieb auslöschen oder ob er mir nur Angst machen wollte. Nur ein kleiner Fehler und ich würde es vermutlich herausfinden. Scheiße, wieso musste ich mir ausgerechnet einen so unberechenbaren Herrn aussuchen? Die halbe Nacht versuchte ich, sein Verhalten zu ergründen und kam zu einem unerfreulichen Ergebnis.
So wie er mich ausgefragt hatte, war er wegen Lyz ziemlich verunsichert. Das bewiesen auch ähnliche Erlebnisse beim SOLV. Vielleicht war seine Selbstsicherheit nur eine Fassade, zumindest wenn es um das Prinzesschen ging. Sie musste ihm unvorstellbar wichtig sein und sobald er mich als Gefahr wahrnehmen würde, bekäme ich einen VIP Platz auf seiner Abschussliste.
Meine Uhr tickte, das hörte ich ganz deutlich. Wenn sich nicht schnell irgendein Parameter änderte, würde mich dieser Auftrag mein Leben kosten.
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Forced Fortune + Fortune Files [illustriert] ✔
VampirosAbgeschlossen ~ Vampirromace ohne Schnulz, ohne Milchbubis, dafür mit Witz und Erotik. ~~*~~ Lieblos erzogen und von Selbstzweifeln geplagt, erhofft sich die angehende Studentin Lyz Selbstbestätigung bei einer Tätigkeit in einem dubiosen Lebenshilfe...