Ohne Ketten ist alles viel einfacher. Einfacher zu fliehen. Einfacher, umgeben von Feinden, nicht aufzufallen. Einfacher, sich zu bewegen. Jip. Mittlerweile sind wir kurz vor den Stadttoren. Wachen patrouillieren verstärkt an den Wehrmauern und die Haie knurren jeden an, der sich auch nur etwas auffällig verhält. In diesem Elend aber nicht aufzufallen ist für ausgebildete Wächter wie mich ein Klacks. Düstere Gassen dienen als Abkürzungen, der Geruch von Kot und anderen Exkrementen haftet hartnäckig an unseren Körpern und hilft, noch weniger aufzufallen, da alle so riechen. Oh mann, werde ich diesen Geruch wohl jemals los? Bitte, bitte. Sonst weiß ich nicht, ob ich nicht aus purer Verzweiflung laut anfange zu protestieren. Und das wäre nicht unbedingt von Vorteil in dieser Situation. Egal, weiter im Text. Vorsichtig luge ich um die Ecke. Die Patrouille wendet uns gerade den Rücken zu. Da Drifter und ich nicht mehr aussehen wie Krakaner und Hai, können wir nicht einfach herumspazieren. Die Auserwählten und ich bilden einen Kreis, in der Hoffnung, dass Drifter nicht sofort auffällt. Zügig passieren wir den kurzen Weg zum Tor. Anscheinend haben sie die Wachhabenden in ihrer Anzahl verringert, denn es steht nur noch einer am Tor und der baggert eine junge Krakanerin an, der das sichtlich unangenehm ist. Aber einmischen kann ich mich nicht. Das Wohl des Landes hängt von mir ab. Diese Krakanerin wird unfreiwilliger Weise meine Gehilfin bei der Flucht. Denn dank ihr können wir unbehelligt die Stadt verlassen.
WIIIUWIII. WIIIUWIII. ALARM DIE GEFANGENEN SIND GEFLOHEN!
Oh Mist. Sie haben unser Verschwinden bemerkt.
VERSCHLIEßT DIE TORE. LASST KEINEN PASSIEREN!
Hey, ein Glück, dass wir schon draußen sind. Schwungvoll springe ich auf Drifters Rücken. Die Auserwählten lassen kurz ihre Magie spielen und schon schwimmen sie mir mit kraftvollen Schlägen ihrer Flossen hinterher. An der Stelle, an der Drifter und ich hinabgetaucht sind, geht es endlich bergauf. Wir schießen nur so durch das Wasser, werden schneller und schneller. Doch halt! Es sind erneut Warnrufe zu hören! Aber jetzt stammen sie von Seastar! Scheiße. Auf einer Anhöhe kommen wir zum stehen. Schwerter prallen auf Schilde. Aggressive Krakaner auf mindest genauso aggressive Soldaten der Heimat. Tote liegen zwischen ihnen und schlafen ihren endlosen Schlaf. Wasserzungen (vergleichbar von der verheerenden Wirkung von Feuer) züngeln munter in den Häusern Atlantis'. Kampfschreie, Befehle und Laute des Schmerzens sind das einzige, was die unzähligen Kehlen der Kämpfenden unter uns verlässt. Fuck, fuck, fuck. Wir sind zu spät. Wütend schaue ich zu Hercule. 《Das ist Eure Schuld! Wir hätten sie warnen können! Und jetzt haben wir Verluste zu verbuchen, die nicht hätten sein müssen, hättet Ihr Euren Hintern hochgekriegt und gleich auf mich gehört! Geht jetzt sofort darunter und macht das wieder gut! Oder ich schwöre Euch, ich werde Euch den Hintern versohlen! Das ist ein Befehl!》Mit Kampfschreien stürmen die Ex-Gefangenen die Dünen hinunter und stürzen sich ins Gemetzel. Geht doch. Warum haben sie nicht gleich auf mich gehört? Ich überprüfe kurz, ob das Pergament sicher verwahrt ist und verlasse dann die schützende Deckung, um mich ebenfalls unseren Truppen anzuschließen. Drifter ist direkt hinter mir. Brüllend ziehe ich mein Schwert aus der Scheide und köpfe sofort einen unvorbereiteten Krakaner.Stunde um Stunde zieht sich der Kampf in die Länge. Mein Arm wird müder und müder. Meine Reaktionen lassen nach und ich muss deshalb schon so einiges wegstecken. Auch Drifter scheint nicht mehr ganz auf der Höhe zu sein. Aber der Gegner ist so frisch wie am Anfang, was wieder einmal belegt, wie chancenlos unsere Situation gerade ist. Das Wasser, mittlerweile blutrot gefärbt, muss immer noch die Schmerzensschreie übertragen. Noch immer scheint kein Ende in Sicht.
Stattdessen wird es nur noch schlimmer. Namenlose stürmen den Hügel hinab, stoßen in unsere Flanke. Jetzt haben wir zwei Gegner und keine Fluchtmöglichkeit, geschweige denn den Platz zum Taktieren. Ozeania kämpft sich zu mir durch. 《Fley, Neptunia sei Dank. Ihr lebt! Hört zu, wir haben nur eine Chance. Die Krakaner sind vollkommen abhängig von ihrem Herrscher. Stirbt er, sind sie völlig orientierungslos und ziehen sich zurück. Ihr müsst ihn besiegen. Fordert ihn heraus! Meine Männer und ich kümmern uns derweil um die Verstoßenen.》Okay,.. warum wurde das nicht früher gesagt? Aber das ist jetzt unwichtig. Kurz lasse ich meine von Natur aus angeborene Magie spielen und schon verschwinden meine Beine und ein kraftvoller, langer, dynamischer Fischschwanz nimmt ihre Stelle ein. Dunkelblaue Schuppen vermischen sich mit Smaragdgrünen und bilden eine wunderschöne Einheit. Drifter begleitet mich durch das Gemenge auf der Suche nach dem feindlichen Anführer. Kurz darauf erhasche ich einen Blick. Mit einer auf Hochglanz polierten Rüstung hockt der Kerl auf einem prachtvollen Hai und gibt Befehle. Seine Tentakel paddeln dabei nutzlos vor sich hin. Tja, gleich werden sie allerhand zu tun haben. 《Hey, Schwachkopf! Ich rede mit dir! 》Erschrocken wendet der Typ sich zu mir um. 《Der Wächterdepp! Wie ist das möglich? Ich ließ Euch doch einsperren!》《Ach lasst das meine Sorge sein. Kümmert Euch lieber um Euren Arsch. Noch habt Ihr die Chance, Euch mitsamt Euren Truppen zurückzuziehen in das Loch, aus welchem ihr gekrochen seid und wir lassen euch am Leben.》《Zurückziehen? Ist das dein Ernst, junger Wächter? Wisst ihr überhaupt, wie es steht? Ich liege klar in Führung. Wenn einer kapituliert, sollte es deine mickrige Ozeania sein, die sich Königin schimpft.》Es stimmt, er ist klar besser. Aber nicht mehr lange. Scheinbar gelangweilt lasse ich meinen Blick über die Kämpfenden schweifen. Dann starre ich ihm geradewegs in sein hässliches, aufgedunses Gesicht. 《Der Schein trügt. Wir verfügen über eine Waffe, die innerhalb von Sekunden Eure ganze Armee auslöschen kann. Aber ich will ja nicht so sein. Ihr seid aus Sicht der Krakaner sicher ein großer Krieger, General und König. Nur bezweifle ich dies. Ich fordere Euch zum Kampf! Belehrt mich eines besseren und zeigt mir, wie mächtig Ihr seid. Oder habt Ihr vielleicht Schiss?》Scheinheilig ziehe ich die Augenbrauen hoch und mache ein unschuldiges, freches Gesicht. Provoziert lässt sich der König darauf ein. Grinsend schickt er seinen Hai fort. Gut! 《Seht her! Seht alle her! Ich, Herrscher der Krakaner werde Fley besiegen! Er hat mich zum Kampf gefordert. Werde ich siegen, geben die Atlanterianer kampflos auf. Die Wächter, die Auserwählten und selbstverständlich Ozeania dürfen dann leider nicht weiterleben.》 《Und wenn ich gewinne zieht Ihr Euch mitsamt Euren Truppen zurück in das Drecksloch, aus welchem ihr gekrochen seid. 》《So sei es!》Die Truppen, Krakaner wie Atlanterianer versammeln sich um uns. Ozeanias Leute konnten mittlerweile die Namenlosen töten. Gut, ein Feind weniger. Mit studierenden Blicken mustere ich die Bewegungen meines Gegners. Er zieht einen der Tentakel hinter sich her, seine Hüfte ist etwas steif und er blutet leicht an seiner Schwerthand. Anscheinend hat er einiges wegstecken müssen. Auch er unterzieht mich einer routinierten Kontrolle meines Zustandes. Locker lasse ich Krakanenkiller baumeln und warte auf den ersten Zug meines Gegners. Der lässt auch nicht lange auf sich warten. Brüllend stürmt der Krakaner auf mich zu. Sein Schwert vollführt einen Bogen im Wasser und prompt schlägt das meine dagegen. So geht es immer weiter. Ich habe eine ganz einfache Taktik. Da es sich hier um einen Zweikampf und nicht um eine unübersichtliche Schlacht, reicht es, mein Augenmerk auf den Gegner zu richten. Ich muss keine schnellen, überraschenden Schläge ausführen, um den Gegner schnell zu besiegen. Nein. Es reicht aus, lediglich zu verteidigen, ihn mürbe zu machen und zu Fehlern reizen, um einen sicheren Sieg und einen guten Kampf davonzutragen.
Was man unter Gegner reizen versteht? Ganz einfach. Einen blöden Kommentar nach dem anderen von sich geben. Dadurch wird dieser wütend, die Schläge unkontrolliert und der Kontrahent macht Fehler. Da aber der letzte Fehler und nicht der erste zählt, ist es wichtig, selbst die Kontrolle über Geist und Körper zu behalten. Tja, hier habe ich Heimvorteil. Schließlich wurde ich gut ausgebildet, um in genau solchen Situationen die Oberhand zu behalten.
《Hey, Schwachkopf! Nichtskönner.Ich mache mir Sorgen. Du siehst aus als könntest du eine Pause gebrauchen. Ich dagegen könnte stundenlang so weiter machen. 》Es stimmt tatsächlich. Der Krakaner hechelt schon stoßweise und seine Angriffe lassen in Stärke und Schnelligkeit erheblich nach. Tja, blöd nur, dass Krakaner ziemlich stur und stolz sind. Niemals würden sie sich die Blöße geben und eine Pause einlegen. Ich habe Recht. Stur schüttelt er den Kopf und legt an Tempo zu. Da macht er auch schon den ersten Fehler. Er hat seine rechte Seite ungeschützt zurückgelassen. Elegant weiche ich nach rechts aus, drehe meinen Kopf aus der Schlagbewegung, statt wie bisher zu parieren und stoße zu. Brüllend vor Schmerzen lässt der Krakaner von mir ab. Er stolpert rückwärts und trennt so seinen Körper von dem Schwert. Blut strömt unaufhaltsam seine Flanke hinunter und schwächt ihn zunehmends. Jetzt bin ich derjenige, der einen Schlag nach dem nächsten ausführt, einen Hieb nach dem anderen an Boden gutmacht und aggressiv angreift. Der Gegner hat keine Chance mehr. Er ist zu stark verletzt, müde und schwach, um es mit mir aufnehmen zu können. Sein Schwert fällt zu Boden,... zeitgleich mit seinem Kopf. Die Tentakel zucken noch ein wenig, dann liegt er still. Ich habe gewonnen! Siegesgewiss reiße ich Krakanenkiller in die Höhe. 《Der Sieg ist unser!》 Jubelrufe seitens unserer Soldaten ertönen. Die Menge ist nicht zu beruhigen. 《Wächter, passt auf! Hinter euch!》 Der Ruf lässt mich herumwirbeln, aber es ist zu spät. Das letzte was ich sehe ist das hässliche Grinsen eines Krakaners. Das letzte was ich spüre ist ein stechender Schmerz, gefolgt von Blut. Dann sinke ich zu Boden und alles wird schwarz. Die verdammten Krakaner und ihre Hinterhältigkeit! Tja, das war mein letzter Fehler. Hochmut.
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Der Wächter von Atlantis
FantasyEin Abenteuer zu bestreiten ist das Eine. Unfreiwillig in ein Selbstmordkommando zu stürzen mit Aussicht auf niederschmetternde Ironie etwas ganz anderes. Wenn ich mich vorstellen darf? Ich bin Fley, einer der Wächter von Atlantis und dabei, blindli...