PROLOG - Regen

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Es schüttete wie aus Eimern an jenem Tag, an dem Adrien am Fenster saß und deprimiert den von schweren, dunkelgrauen Wolken verhangenen Nachthimmel beobachtete. Paris wirkte an jenem Tag so trist, so totenstill und menschenleer wie er es bisher nie erlebt hatte. Die allseits bekannte Gestalt des Eiffelturms zeichnete sich als finstere Silhouette von der dunklen Skyline der französischen Metropole ab, und als Adrien den Finger nach dem kühlen Glas der Fensterscheibe ausstreckte, wurde der Himmel von einem Blitz erleuchtet, und er zuckte erschreckt zurück. Zitternd presste er die Handflächen gegen die Ohren, um das fürchterliche Geräusch des grollenden Donners zu dämpfen, welches ihn schon immer in Angst und Schrecken zu versetzen mochte. Normalerweise hätte sich der Junge bei einem solchen Unwetter in sein Zimmer verkrochen und wäre in einer Burg aus Decken und Kissen verschwunden. Doch heute zwang er sich, wach zu bleiben und zu warten. Der prasselnde Regen des Gewitters war schließlich eine milde, dennoch schmerzhafte Erinnerungen an das, was er bald verlieren würde.
An jemanden, den er bald verlieren würde.
Adriens Finger verkrampften sich ineinander, und er verdrängte die düsteren Gedanken mit einem energischen Kopfschütteln. In diesen quälend langen Stunden durfte er sich nicht seiner eigenen Trauer widmen. Der Junge musste all seine Stärke aufbringen, um nicht in Tränen auszubrechen. Um sich auf andere Gedanken zu bringen, zählte er die schwarzweißen Fließen des Wohnzimmers - wie er es ständig tat, wenn er sich langweilte oder Ablenkung brauchte.
Bei Zweiunddreißig hörte er mit dem Zählen auf, da die Doppeltüren zum Nebenraum sich öffneten. Neugierig blickte Adrien auf, denn ein riesiger, breit gebauter Mann mit einem frustrierten Gesichtsausdruck trat ein. Gorilla - so nannte der Junge den schweigsamen Angestellten seines Vaters immer heimlich, weil er ziemlich groß war und selten redete. Naja, eigentlich redete er nie, oder wenn er mal etwas sagte, dann bestimmt nicht in seiner Gegenwart. Adrien mochte ihn, obwohl er ihn noch nicht lange kannte. Er passte auf ihn auf und begleitete ihn wie einen Leibwächter, sobald er nur einen Fuß aus dem Anwesen der Agrestes setzte. Das geschah natürlich nicht oft, da der Neunjährige nicht zur Schule ging und Zuhause bei seiner Hauslehrerin Unterricht bekam. Zugegeben, Adrien lernte nicht sonderlich gern - nur Kunst und Musik fand er recht interessant, doch alles andere ödete ihn die meiste Zeit ziemlich an. Seine Mutter brachte ihn nach einem anstrengenden Tag voller Bildung meistens ins Bett, dann tranken sie zusammen warme Schokoladenmilch und erzählten sich gegenseitig Geschichten, und lachten, bis sie Bauchweh bekamen...
Maman.
Diese unbeschwerte Erinnerung versetzte seinem Herz einen ungewollten Stich, und die Ereignisse stürzten erneut auf ihn ein - heftiger als der endlose Regenschauer, der draußen auf die Erde niederfiel.
Der Streit.
Der Balkon.
Der Sturz.
Die vielen Rettungsmänner und der Hubschrauber.
Sein Vater, unter Tränen und darum bemüht, nicht in Panik zu geraten.
Adrien erhob sich von der Couch in den Stand und machte vorsichtig einen Schritt auf seinen Bodyguard zu. "Kann ich... Kann ich zu ihnen?", fragte er vorsichtig.
Gorilla deutete ein Nicken an, und schenkte seinem Schützling einen Blick von unaussprechlichem Mitleid.
Als der Junge die Türschwelle überquerte, fasste sein Bodyguard ihm unsicher an die Schulter.
"Schon okay", versicherte Adrien ihn mit einem freundlichen Lächeln, "Ich schaffe das schon alleine, trotzdem danke."
Adrien hatte gelogen. Bei jedem Schritt, den er machte, schnürte sich seine Kehle zu, als würde ihm die Atemluft ausgehen. Dem Jungen wurde leicht schwindelig, weshalb er sich am Treppengeländer festhalten musste. Die Stufen kamen ihm steiler als sonst vor, und das handgemalte Portrait, welches eine glückliche, dreiköpfige Familie darstellte - allesamt adrett gekleidet und mit blondem Haar - erschien ihm plötzlich wie ein Traum aus längst vergangenen Zeiten.
Und das spürte er wie einen Dorn im Schuh, denn der Unfall war vor gerade mal vierundzwanzig Stunden geschehen.
Schwankend kam Adrien vor dem Schlafzimmer seiner Eltern an und blieb davor wie angewurzelt stehen. Hölzern legte er seine Hand auf den goldenen Knauf und drehte ihn so vorsichtig nach links, dass das Klicken der sich öffnenden Tür wie ein unheivolles Echo in den Gemäuern des ungewohnt ruhigen Anwesens widerhallte.
Der Junge linste in das schwach beleuchtete Gemach seiner beiden Eltern. Wie oft hatte er sich als schreckhaftes Kleinkind spät in der Nacht im Dunkeln hier reingeschlichen, wenn er mal von einem Albtraum geplagt wurde? Dann war er auf das traumhafte, cremeweiße Himmelbett mit der wunderbaren, weichen Matratze geklettert und hatte sich unter der Decke zwischen das schlafende Ehepaar gedrängt. Die Wärme, die Adrien damals gespürt hatte, als die beiden Erwachsenen sich stumm lächelnd an ihr müdes Kind kuschelten, hatte ihm ein unbeschreibliches Gefühl von Geborgenheit gegeben.
Doch heute lag nur seine Mutter im Bett, die Decke aus Satin hüllte ihren Körper ein wie ein seidenes Kokon. Ihr sonst so strahlendes, freundliches Gesicht wirkte fahl und kraftlos, das strohblonde, gewellte Haar lag in einem Seitenzopf auf ihrer Schulter. Die Augen waren geschlossen, sodass es fast so aussah, als würde sie tief schlafen. Neben ihr kniete sein Vater, der ihre Hand in seinen hielt und ihr beruhigende Worte der Zuneigung zuflüsterte, die Adrien aus der Entfernung nicht verstand. Und doch wusste der Junge genau, dass sie beide diesselbe, qualvolle Trauer verspürten.
Der Junge musste sich wohl auf irgendeine Art und Weise bemerkbar gemacht haben, denn sein Vater schaute ihn über die Schulter an - am liebsten wollte er wieder wegsehen, da sein graublauer, von Schmerz erfüllter Blick sich in seine Seele bohrte.
Dennoch bewahrte er die Fassung, während er mit seinem Sohn sprach. Etwas Anderes hätte dieser nämlich nicht vom verschwiegenen Mann erwartet. "Adrien", hauchte seine überraschte, leise Stimme. Beim Klang seines Namens musste Adrien schlucken. Derartig unglücklich hatte er seinen Vater noch nie erlebt.
Nach einem Moment, in welchem der Erwachsene sich die Brille abnahm und sich mit der Hand übers Gesicht wischte, streckte er den Arm nach seinem Sohn aus. "Komm her", forderte er milde auf, und schenkte ihm ein brüchiges Lächeln. Zögernd betrat Adrien das trübe, leere Elternzimmer, und plötzlich schien ihm jeder weitere Schritt größere Überwindung zu kosten - noch schlimmer als vorhin bei der Treppe.
Bei der vetrauten Bettkante angekommen, ahmte er es seinem Vater nach und setzte sich auf seine Knie. Er spürte seine Hand auf der Schulter, wodurch der Junge sich schwach getröstet und gestärkt fühlte. Aber den Kummer am heutigen Tage konnte nicht mal er wegwaschen.
Nie wieder würde er den Kummer vergessen können, den er hier und jetzt erleben musste.
Die Lider der blonden Frau flatterten erschöpft auf, und trübe, wiesengrüne Augen kamen zum Vorschein - Adrien hatte sie geerbt, wie viele ihrer persönlichen Eigenschaften. Doch die Willenstärke und Lebensfreude, die früher in diesen wunderschönen, mandelförmigen Augen geleuchtet hatte, war vollkommen verloschen.
Jedoch glitzerte etwas in ihnen auf, sobald sie den Jungen erhaschten, und ihre Lippem formten sich zu einem erfreuten, bildschönen Lächeln. Unbewusst brannte sich dieser Gesichtsausdruck in Adriens Gedächtnis ein.
"Hallo, mein kleiner Prinz", begrüßte seine Mutter ihn, die wohlklingende Stimme kaum mehr als ein heiseres Flüstern. Sie hob ihre freie Hand um damit über die Wange ihres Sohnes zu streicheln - dieser erschrak bei der Berührung, denn ihre Hand war eiskalt. Kälter als das unberechenbare Sturmwetter, dessen Donnerschläge und Blitze nicht einmal an einem solchen Moment Ruhe geben wollten.
"Maman", erwiderte Adrien - bemüht darum, nicht seine innere Pein zu zeigen - und lächelte sie zurück an, "Ich- Ich weiß nicht, was ich sagen soll-"
"Du musst nichts sagen, wenn du nicht die richtigen Worte findest", versicherte seine Mutter ihm eilig und tippte ihm verspielt auf die Nasenspitze. Adrien gluckste leise dabei auf, doch stockte sofort in seiner kurzen Freude, die jäh von einem unterdrückten Schmerzlaut seiner Mutter vernichtet wurde. Sie kniff die Augenlider zusammen und nagte beherrscht an ihrer Unterlippe.
Voller Besorgnis musterte der Junge seine Mutter. "Maman?!"
"Emilie", meinte sein Vater ebenso angespannt und drückte sachte ihre Hand, die er nicht loszulassen wagte, "Überfordere dich nicht, du musst dich ausruhen."
"Nein, nein", entgegnete seine Frau beharrlich, und trotz ihres zerschmetterten Zustandes konnte man noch ein wenig von ihrem ureigenen Temperament heraushören, als sie die Augen wieder aufschlug. "Keine Verletzungen werden mich daran hindern, mit meinem Sohn zu reden." Ihre Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf Adrien. Er legte seine Hand auf ihre und hielt sie fest, um ihr in jenen so schweren Augenblicken Beistand zu leisten. Seine Mutter lächelte matt.
"Mein Schatz", sprach sie bedeutsam zu ihm, "Du sollst wissen, dass ich dich und deinen Vater über alles liebe. Egal, wo ich hingehen werde. Du musst dir keine Sorgen um mich machen, und ich möchte nicht, dass ihr beiden lange um mich trauert."
"Aber..." Verzweifelt suchte Adrien nach Sätzen, die er aus der Luft greifen musste. Was konnte man schon Aufmunterndes in so einer Lage sagen? "Aber ich will dich nicht vergessen, Maman - Papa und ich brauchen dich doch!"
"Ich weiß." Seine eigene Traurigkeit spiegelte sich in den Augen seiner geliebten Mutter wieder. "Ich zwinge euch ja nicht dazu, mich zu vergessen. Behaltet mich als einen Teil unserer Familie in Erinnerung, aber seid füreinander da. Denn nichts auf der ganzen Welt, Adrien, nichts im Universum ist stärker als die Kraft der Lie-" Ein Stöhnen der Anstrengung verließ ihre Lippen, und ihr Kopf sank tiefer ins Kissen, wodurch sie noch gebrochener wirkte.
"Liebling, schon dich", beteuerte ihr Ehemann mitgenommen, seine Hand wanderte zu ihrer Schulter, "Du weißt, was der Arzt gesagt hat: Wenn du dich weiter so überanstrengst, dann..." Die Stimme seines Vaters verlor sich und er senkte mit geschlossenen Augen den Kopf. Seine Niedergeschlagenheit machte Adrien das Herz nur noch schwerer, und ihm quollen schon ein paar kleine Tränen aus den Augenwinkeln - doch die rieb er sich hastig mit den Ärmeln seines Pullovers weg, obwohl er diese Tortur kaum mehr aushielt.
Die Augen seiner Mutter leuchteten voller Zuneigung. "Gabriel", kiekste sie sanftmütig, "Selbst unser Sohn weiß, dass es sich nicht mehr länger hinauszögern lässt. Du musst dir bald keine Bedenken mehr um meine Gesundheit machen."
"Hör auf, davon zu reden", flehte ihr Gatte schwermütig und krümmte den Rücken, als würde das gesamte Gewicht eines Planeten auf seinen Schultern lasten und ihn niederdrücken. "Nicht vor Adrien. Es kann nicht so enden. Nicht auf diese Art und Weise. Das ist grausam."
Seine Ehefrau fuhr mit den Fingerspitzen über seinen Handrücken. "Ich liebe dich."
Adriens Vater legte seine Lippen zärtlich auf ihre Hand und küsste ihre Knöchel, in seinen Augen schimmerten Tausende von unausgesprochenen Bekundungen, für die die noch verbliebene Zeit nicht reichte. "Ich liebe dich auch", wisperte ihr Ehemann so gefühlvoll, als würde es das letzte Mal sein, dass er diese Worte aussprach, "Ich werde niemanden mehr so sehr lieben wie dich."
Das tapfere Lächeln von Adriens Mutter wurde plötzlich schelmischer. "Sag das nicht", tadelte sie ihn liebevoll, "Im Leben gibt es so viel mehr, dass du noch finden wirst. So viele kostbare, wunderschöne, unersetzliche Dinge, die in der Zukunft auf dich warten. Du musst nur genau hinschauen." Ihr träger Blick richtete sich auf ihren Sohn. "Das Gleiche gilt für dich, mein kleiner Prinz."
Über Adriens Wangen rollten nun unaufhörlich dicke Tränen, wie der heftige Regen, der sich draußen in Paris entleerte. Er dachte, er besäße die nötige Kraft, um Abschied zu nehmen. Er hatte sich ernsthaft vorgenommen, seinen Eltern die plagende Qual zu ersparen, die in ihm tobte wie der unbarmherzige Gewittersturm, vor dem er sich so fürchtete.
"Maman", wimmerte der Junge erstickt und er warf sich, ohne darüber nachzudenken, heulend auf das Himmelbett und vergrub sein Gesicht in der Halsbeuge seiner Mutter, die er über alles liebte. Sie reagierte auf seine Geste, indem sie einen Arm um ihn schlug und ihm innig über den Rücken streichelte.
Das ist ungerecht!, klagte Adriens Herz wiederholt, immer und immer wieder. Warum nimmt man uns Maman weg? Wer will ihr das antun? Das hat sie nicht verdient! Sie würde nie jemanden schaden, warum muss sie dann leiden?
Warum?
Doch der Junge erhielt keine Antwort auf diese Frage. Nicht mal sein Vater konnte das wissen, der ihrer Umarmung beipflichtete und seine langen Arme um sie schlang.
Für diesen einen Moment, an diesem aussichtlosen Regentag, der auf ewig der unglücklichste Tag im Leben der Agreste-Familie bleiben sollte, hielten sich alle drei Mitglieder im Arm und gaben einander den Schutz und die Liebe, während der Sturm und der Regen auf der anderen Seite des Fensters für Verwüstung sorgten.
Und dann war der Moment vorüber.
Seine Mutter hatte die Augen geschlossen, und öffnete sie nicht erneut.
Auf einmal hörte man keinen Donnerschlag mehr. Nur den Regen, der unregelmäßig gegen das Fensterglas trommelte.
Das tieftraurige Schluchzen, welches nun durch den Raum tönte, stammte aber nicht von Adrien.
Sondern von seinem Vater, der die Arme fest um ihn geschlungen hatte und sein Gesicht in seinen Haaren versank. Sein ganzer Körper krampfte zuckend zusammen, und seine Wangen waren gerötet von den vielen Tränen, die er weinte. Noch nie hatte sein Sohn ihn beim Weinen erwischt. Früher war Adrien der Annahme, dass Erwachsene nicht weinen könnten.
Doch ab diesem Tag wusste er genau, dass sie das sehr wohl konnten.
Wie der Regen, der auf den Boden der Erde prasselte.
Vater und Sohn hielten sich länger im Arm und weinten, als man hätte vorstellen können.
Nichts würde mehr sein wie zuvor.
Nie wieder wollte Adrien glücklich sein.

LE PAON ET LE PAPILLON - Un Amour Complexe 🐦💘🐛Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt