KAPITEL 12 - Gefahr im Anzug

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Das nervenaufreibende Gehupe im Pariser Straßenverkehr trug nicht gerade viel dazu bei, dass Gabriels hitzige Stimmung abkühlte. Genervt von dem immensen Stau, der sich vor ihm auf der Avenue de Suffren angebahnt hatte, tippte er die gefühlt hunderste besorgte Nachricht an Adriens Handy und schickte diese mit einem flauen Angstgefühl in der Magengrube ab.
Vor weniger als einer halben Stunde war der Modedesigner mitsamt Mlle Sancœur an seiner Seite aus dem Tour Montparnasse gestürmt, weil er auf jähe Weise erfahren musste, dass sein Sohn - dem er das Verlassen der gemeinsamen Wohnung ausdrücklich verboten hatte - ohne jegliche Aufsicht in der Stadt herumirrte. Eigentlich sollte der Blonde ja vor lauter Wut brodeln wie ein erhitzter Teekessel, doch seine väterlicher Schutzinstinkt betäubte Gabriels restliche Sinne.
Er musste Adrien unbedingt finden. Diese Aufgabe besaß nun oberste Priorität.
"Und Sie sagten, er sei Richtung Eiffelturm gegangen?", fragte er Mlle Sancœur wiederholt mit beherrschter Stimme, welche hinter ihm im Auto saß und den undurchdringlichen Blick ihrer hellblauen Augen auf das Fenster gerichtet hat, wie er flüchtig im Rückspiegel sehen konnte.
"Ja, es sah danach aus. Jedenfalls wusste ich nicht exakt, wo er hinwollte, doch ich glaube, dass wir in der Nähe des Collège Françoise Dupont suchen sollten. Sie hatten ja erzählt, ihr Sohn nehme dort Fechtunterricht."
"Hoffen wir mal, Sie irren sich nicht ein weiteres Mal", murrte Gabriel übelst gelaunt und befahl an Adriens Bodyguard gewandt: "Zum Collège Françoise Dupont, und zwar so schnell wie möglich!"
Der stumme Chaffeur am Steuer nickte und navigierte den PKW mit gewohnter Präsenz und einer starren Miene. Diese Kurzschlusssaktion könnte dem Modedesigner zwar den Job und den Fortbestand seines geliebten Anwesens kosten, doch solange er Adrien nicht wohlbehalten und unversehrt vor seinen eigenen Augen wiederfand, würde er sich von niemanden in die Schranken weisen lassen.
Doch sollte er seinen Sohn tatsächlich aufgespürt haben, konnte sich dieser auf eine gewaltige Standpauke gefasst machen.
Ein unerwarteter Ruck pulsierte an seinem Schlüsselbein, und Gabriel zuckte unwillens zusammen, als er völlig unvorbereitet die Emotionen von Mlle Sancœur durch die Brosche an seinem Hemdkragen unter der Krawatte am eigenen Leib spürte:
Nagende Schuldgefühle. Beißende Reue. Sorge um den verloren gegangenen Jungen. Erzwungene Selbstkontrolle und äußerlich aufgelegte Kühlheit.
Verblüfft legte der Blonde eine Hand über das verborgene Schmuckstück und betrachtete die still gewordene Leiterin von Largesse im Rückspiegel, doch diesmal eingehender. Nie hätte er geglaubt, in ihrer Aura solch immense Wellen zu empfangen, wodurch ihm der klare, nichtssagende Gesichtsausdruck, welcher ständig ihre Visage einnahm, wie ein Rästel erschien.
Plötzlich überkamen Gabriel unerklärliche Schuldgefühle, die ihn während der gesamten Fahrt nicht loslassen wollten. War er doch zu hart mit seiner neuen Vorgesetzten umgesprungen, weil ihn die Angst um das Wohl seines Sohnes in einem keifenden Sturkopf verwandelt hatte? Obwohl Mlle Sancœur eine äußerlich wie eine distanzierte, dominante Geschäftsfrau mit einem Hang zum Pragmatismus wirkte, handelte es sich bei ihr trotzdem um eine Frau, und Frauen besaßen eine enorm beeinflussbare Gefühlslage, eine gewisse Zerbrechlichkeit, die sie sich nie in der Gegenwart eines Mannes anmerken lassen würden.
Wie Schmetterlinge.
Ob Nooroo, welcher bestens versteckt in Inneren seines Jacketts ruhte, ebenfalls der Gabe der Telepathie mächtig war und ebenso dachte? Zu gerne würde er den Kwami nun um Rat fragen.
Als sie erneut an einer roten Ampel halten mussten, atmete Gabriel einmal tief durch, um seinen mit Zorn vermischten Stolz hinunterzuschlucken und das Wort bedachtsam an Mlle Sancœur zu richten. Vielleicht wäre im jetzigen Moment eine weitere Entschuldigung für sein fatales Fehlverhalten angebracht, so schwer es dem Modedesigner auch fallen würde.
"Hören Sie, ich-"
Ein gellender Angstschrei auf der Straße unterbrach seinen Satz und ließ die drei Erwachsenen erschrocken aufhorchen. Gabriels gesamter Körper spannte sich rapide an, und bevor er jene Person orten konnte, welche die peinliche Stille gebrochen hatte, flog ein Flammenschwall haarscharf an der Windschutzscheibe ihres Autos vorbei. Nicht schon wieder.
Ein muskelbepackter, schnauzbärtiger Wrestlerknabe mit einem hautengen, knallbunten Latexanzug, riesiger Gürtelschnalle und beharrten Oberschenkeln stampfte über die vollbefahrene Straße und schubste jedes Fahrzeug, welches ihm in die Quere kam, eigenhändig beiseite.
"Fuegro!", brüllte der Randale mit erhobenen Fäusten, "Niemand kann Fuegros leidenschaftlichem Seelenfeuer entrinnen!" Da nahm er einen tiefen Atemzug und speite eine Ladung Flammen in die Luft, wobei alle Verkehrsteilnehmer in helle Panik verfielen und verzweifelt um Hilfe kreischten. Die lodernde Feuerbrunst Fuegros formte einen Vogel mit gewaltigen Schwingen.
Einen in Flammen stehenden Phönix.
Gabriel brauchte nicht lange darüber nachzudenken, was als Nächstes zu tun war - denn wenn Paris erneut brennen würde, dann wurde jemand wie Hawk Moth dringend benötigt!
"Fahren Sie an den Gehsteig!", ordnete der Modedesigner seinem Chauffeur an, welcher knapp nickte und tat wie ihm gehießen. Der Bodyguard seines Sohnes parkte das Auto vorübergehend an einem freien Fleckchen vor einem Supermarkt, und kaum kam der PKW zum Stehen, schnallte Gabriel sich ab, riss die Tür auf und sprang im Eiltempo ins Freie.
"Monsieur Agreste! Wo wollen Sie hin?", rief Mlle Sancœur ihm irritiert hinterher.
"Ich muss meinen Sohn finden", tat der Blonde die Frage verbissen ab, und diesmal musste es sich nicht mal eine Ausrede erfinden, "Paris befindet sich erneut in einer Gefahrensituation, und ich kann ihn nicht alleine in der Gegend herumlaufen lassen!"
"Sie könnten selber in Gefahr geraten, wenn Sie überstürzt handeln!", entgegnete die Geschäftsführerin von Largesse beharrlich und machte Anstalten, ihm zu folgen, "Lassen Sie mich mitkommen!"
"Auf keinen Fall!", wehrte Gabriel den Vorschlag sofort ab und drehte sich zu ihr um, "Ich möchte Ihr Leben nicht unnötig auf Messers Schneide setzen! Bleiben Sie bei meinem Bodyguard, er wird Sie solange beschützen, bis ich wieder zurück bin!"
Der Bodyguard nickte gehorsam, doch Mlle Sancœur ließ sich nicht so leicht abschütteln und verschränkte empört die Hände vor der Brust. "Sie halten mich also für eine Maid in Not, die den Schutz eines Mannes unbedingt für sich beanspruchen muss?", stellte sie mit scharfem Unterton fest, "Nichts für ungut, aber ich kann sehr wohl auf mich selbst aufpassen!"
"Darum geht es nicht!", schrie Gabriel aufgebracht zurück. Noch nie im Leben war er so einer unglaublich dickköpfigen Dame begegnet! "Ich möchte Sie doch nur in Sicherheit wissen, bis dieser Verrückte aufgehalten wird, das ist alles!"
Die eisblauen Augen der Dunkelhaarigen blitzten auf. "Meine eigene Sicherheit ist im Moment irrelevant, Sie leichtsinniger Sturkopf!"
"Und so ein Satz von einer Person, die eine Diskussion mitten während eines möglichen Terroranschlages anfängt!"
"Ich bin nicht diejenige gewesen, die aus dem Gebäude gestürmt ist, nur, weil ich meinem Kind kein Mindestmaß an Freiheit schenken kann!"
"Meine Erziehungsmethoden verstehen Sie nicht mal ansatzweise!"
"Etwa, weil Sie keinen Sinn ergeben?"
"Ich bitte um ein wenig Respekt, Mademoiselle! Ich sage auch nichts gegen die Art und Weise, wie Sie Ihre glänzende Firma zu führen vermögen!"
"Wissen Sie auch, weshalb? Weil ich meine Angestellten nicht gegen ihren Willen einsperre, darum!"
"Fuegroooo!"
Ihr erhitztes Streitgespräch wurde von einer noch hitzigeren Attacke unterbrochen, welche die beiden Erwachsenen in Form eines Flammenwalls voneinander trennte. Erschrocken sprang Gabriel nach hinten, bevor er beinahe von der Feuerbrunst gestreift wurde.
"Nathalie!", gellte er entsetzt über den immer chaotischer werdenden, wachsenden Chor an verängstigten Passanten, "Sind Sie verletzt?!"
"Ich bin unversehrt", versicherte eine laute Stimme auf der anderen Seite des Feuers und der Modedesigner atmete vor Erleichterung den Kloß in seiner Brust aus, "Ihr Bodyguard und ich werden uns ein Versteck suchen und die Polizei anrufen. Wir treffen uns dann später am Collège Françoise Dupont, passen Sie bitte auf sich auf, Gabriel!"
"Das werde ich, wenn Sie das Gleiche tun, versprochen. À bientôt!"
Fuegro setzte schon zum nächsten Schlag an, da nutzte Gabriel die Gunst des Augenblicks und suchte sich eine Seitengasse, in welcher er sich ungestört verwandeln konnte. Hoffentlich gelang es ihm diesmal, rechtzeitig als Hawk Moth einzugreifen, um den Ausmaß des Schadens zu verringern!
Und in der Zwischenzeit werde ich ebenso Adrien wiederfinden.
Der Modedesigner schob sich in einen besonders schmalen Abstand zwischen zwei Gebäuden und zog an seinem Sakko, sodass Nooroo ans Tageslicht schweben und seinem Besitzer alamiert mit den silbrig blauen Äuglein anschauen konnte.
"Meister Gabriel!", quiekte der lavendelfarbene Kwami mit erhobenen Ärmchen, "Die Lage ist ernst, Ihr müsst euch schnellstens verwandeln!"
"Ich weiß", murmelte der Blonde und betrachtete entschlossen seine Hand, welche er wutgeladen zur Faust ballte, "Das erste Mal war ich noch völlig planlos, doch heute bin ich mir meiner Pflicht bewusst!"
"Ich bin stolz auf Euren Eifer, Meister, jedoch solltet Ihr vorher noch beachten, dass-"
"Nooroo, verwandle mich!"
Nachdem die magische Formel ausgesprochen wurde, saugte seine Brosche den Schmetterlings-Kwami mit einem konzentrieren, violett glitzernden Energiestrudel auf und veränderte sein Äußeres, indem das Schmuckstück ein Flügelpaar entfaltete. Tausende von weißen Faltern setzten sich auf seinem gesamten Körper nieder, und ein immenser Aufschub von übernatürlicher Kraft rauschte durch seine Adern und ließ sie vor Aufregung pochen. Nachdem er den Verwandlungsprozess vollendet hatte, stand Gabriel als Hawk Moth da, mit violettem Anzug, silberner Maske und einem Stock in der Hand.
Merkwürdigerweise fühlte sich der verwandelte Modedesigner weniger geladen als am gestrigen Tag, wo die erste Transformation ihn regelrecht die Vehemenz eines Gott hatte verspüren lassen. Ob seine Fähigkeiten dadurch eingeschränkt wurden, dass er sich etwas schwächer vorkam als zuletzt?
Hawk Moth ging in die Hocke und sprang mit einem beachtlichen Satz auf das Dach des vor ihm befindlichen Gebäudes. Alles klar, meine Superkräfte scheinen einwandfrei zu funktionieren.
Schnell versuchte der Besitzer des Schmetterlings-Miraculous, sich einen Überblick von der brenzligen Situation zu verschaffen: Der feuerspuckende Wrestlerknabe Fuegro rammte jedes Fahrzeug, welches seinen Weg kreuzte, wie ein Sumoringer auf die Seite und fackelte dabei stoßweise Ladungen an glutrotem Feuer in die Luft.
Plötzlich piepte eine Melodie aus seinem Stock. Am vorherigen Tag wurde ihm bereits erklärt, dass seine auf seine Verhältnisse angepasste Waffe nicht nur als Stütze im Kampf diente und über eine informative, abgespeicherte Anleitung verfügte, sondern auch als Kommunikationsgerät fungierte.
Hawk Moth öffnete die Kuppel, um den Anruf seiner Partnerin entgegenzunehmen. "Hawk Moth?", ertönte eine wohlklingende Damenstimme aus der Öffnung.
"Mayura", begrüßte er die Heldin charmant und verstellte bewusst die Stimmlage, um seine wahre Identität zu verbergen und seiner Rolle mit einem besonderen Touch zu versehen, "Hast du schon erfahren, was gerade auf der Avenue de Suffren geschieht?"
"Ich habe es leibhaftig mitbekommen", antwortete Mayura am anderen Ende der Leitung mit ernstem Tonfall, "Dieser Feuerspucker ist ein herbeigerufener Artist von Circus Master, einem Schergen des Phönixkönigs. Um ihn aufzuhalten, müssen wir verhindern, dass er seine Fähigkeiten pausenlos einsetzt, dann wird er von selbst verschwinden."
"Ich verstehe." Hawk Moth ließ den randalierenden Schurken keinen Moment lang aus den Augen. "Da ich bereits vor Ort bin, kannst du das getrost mir überlassen. Wo bist du?"
"In deiner Nähe. Ich kümmere mich solange um die gefährdeten Passanten. Solltest du Hilfe brauchen, komm ich zu dir und wir überwältigen ihn gemeinsam. Viel Glück, Flattermann!"
"Danke", schmunzelte Hawk Moth breit, denn irgendwie gefiel ihm sein neuer Spitzname, "Wir sehen uns dann gleich, mein schöner Pfau."
Das Telefonat wurde beendet, und der verwandelte Modedesigner verfiel eilends in einen Zustand tiefster Konzentration, um von den telepathischen Kräften seines Miraculous Gebrauch zu machen.
Sein Verstand empfing ein schwaches Pulsieren auf seinem inneren Radar.
Unterdrückte Wut. Raue Frustration. Das Gefühl der Diskriminierung durch die Unterdrückung der Erwachsenen. Ein genervter Teenager, der sich nicht den Mund verbieten lassen will.
"Erwachsene sind echt uncool!", stöhnte ein Junge mit abstehenden Ohren, Brille und roter Kappe beschwerlich auf und schlurfte in sein Klassenzimmer zurück, während er lustlos ein paar Blasen aus seinem in Seifenwasser getunkten Seifenblasenstäbchen, "Vor allem diese Mme Mendeleiev ist eine totale Spielverderberin!"
Stutzig rieb sich Hawk Moth das Kinn. Ob ein beleidigter Jugendliche eine geeignete Wahl für einen Gehilfen wäre? Vor allem wegen seines fehlenden Respekts für erwachsene Menschen hegte er Zweifel gegenüber seiner Wahl.
"Fuegroooo!" Weitere Angstschreie von Parisern, weitere demolierte Verkehrsmittel, eine weitere Feuerbrunst.
Unschlüssig kniff Hawk Moth seine Augen zusammen. 'Ich habe keine andere Wahl, mir läuft die Zeit davon!'
Hastig tippte er mit den Fingerspitzen auf die Kuppel seines Stocks und befreite so einen Kohlweißling, welchen er am Tag zuvor zufällig für Notfälle wie diesen eingefangen hatte. Er ließ das flatterte Insekt auf seiner ausgestreckten Handfläche landen und legte behutsam seine andere Hand über das zierliche Tier, um es mit der Energie seines Miraculous zu füllen. Die weißen Flügel des Schmetterlings färbten sich in ein tiefdunkles Violett.
"Flieg los, kleiner Akuma", befahl er und entfernte seine Hand, um den Falter in die entsprechende Richtung fliegen zu lassen, welcher voller Eifer davonsauste, "Flieg zu diesem Jungen und verwandle ihn!"
Es dauerte nicht lange, und der Akuma erreichte sein Ziel: In der Schule des Jungen gab es nämlich kein Dach über der Aula, und so konnte er den Jungen problemlos lokalisieren. Das Insekt landete auf dem Behälter des Seifenblasenwassers und verschwand im besagten Objekt, welches sich nun violett verfärbte.
Gehorsam hob der Junge den Kopf, das telepathische Kommunikationsfeld wurde geöffnet und Hawk Moth konnte nun zu ihm sprechen.
"Bubbler", zog sich der Miraculous-Besitzer spontan einen Namen für seinen Gehilfen aus dem Ärmel, "Ich bin Hawk Moth. Deinen Zorn, ständig von den verbohrten Erwachsenen zurechtgewiesen zu werden, kann ich gut nachvollziehen. Ich verleihe dir die Fähigkeit, den Zwängen der Gesellschaft zu entfliehen, doch als Gegenleistung stehst du mir im Kampf zur Seite. Was hälst du davon?"
Der Junge setzte ein hämisches Grinsen auf. "Ich bin am Start, Alter", versicherte er ihm ungehalten, "Verlass dich auf mich und die Beats meiner Blasen!"
Die dunkelviolette Materiewolke hüllte den Jugendlichen ein und Gabriels modische Vorstellungskraft erledigte den Rest.
"Komm zur Avenue de Suffren, Bubbler", ordnete Hawk Moth an, bevor er das Telepathiefeld zwischen ihnen deaktivierte, "Dein Einsatz wird dort dringend benötigt... Ähm, Kumpel."

LE PAON ET LE PAPILLON - Un Amour Complexe 🐦💘🐛Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt