KAPITEL 11 - Die Schule ruft

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"Duusu, verwandle mich zurück!"
Die blaue Energiewelle löste sich von Mayuras Hülle und brachte Nathalie zum Vorschein, welche sich hinter dem Fahrstuhleingang auf dem Dach des Tour Montparnasse detransformierte. Die Brosche an ihrer Bluse veränderte ihr Muster, als Duusu in einem leuchtenden Wirbel herausschoss und wie gewohnt übermütig aufquiekte.
"Schsch", besänftigte die Dunkelhaarige den hyperaktiven Pfauen-Kwami und deutete mit einer Kopfbewegung auf ihre Schulter, sodass sich Duusu beruhigte und sich darauf niedrrließ, "Wir haben doch daheim darüber geredet, dass es tagsüber wesentlich riskanter ist, als Mayura in Aktion zu treten."
Der azurfarbene Winzling mit magischer Herkunft machte eine wegwerfende Armbewegung. "Aber wieso sollte das denn problematisch werden, wenn alle Pariser dich für deinen Heldenmut lieben?", widersprach sie mit vor Bewunderung glitzernden Äuglein.
"Alle, abgesehen vom Phönixkönig", korrigierte Nathalie ihren Kwami schmunzelnd und trat von ihrem Versteck ins Innere des Fahrstuhls, um in den 43. Stock zurückzukehren, wo eine vielbeschäftigte Finanzargentur auf ihre Führungskraft wartete, "Und wenn du es als Heldenmut bezeichnest, dem alten Mann sein Frühstück nachzubringen, weil dieser es ja "aus Versehen" bei sich Zuhause vergessen hatte, dann möchte ich wirklich gerne wissen, wie du die gestrige Aktion beschreiben würdest."
"Als spektakulär! Atemberaubend! Umwerfend!" Wohlwissend, das es im Aufzug keine Kameras oder unerwünschte Augenzeugen gab, unterstrich Duusu genannte Adjektive mit überschwänglichen Gestiken. "Genauso, wie du den hübschen Jungen eben gerettet hast - und dabei musstest du dich nicht mal verwandeln!"
Bedächtig nahm sich Nathalie aus ihrer Hosentasche einen kleinen Beutel mit Kürbiskernsamen und öffnete ihn, damit der Pfauen-Kwami sich durch den Verzehr jener Hülsen neue Energie für Notfälle zuführen konnte. "Es wundert mich, wie Agrestes Sohn ausgerechnet auf die Les Crânes Infâmes stoßen konnte", grübelte sie laut und legte den Kopf in den Nacken, "Er wirkte irgendwie so... verloren auf mich, als würde er sich kaum auf den Straßen der Stadt kaum auskennen."
Während sie sprach, erfüllten Duusus leise Schmatzlaute den Fahrstuhl, welche sich gierig einige Kürbiskernsamen ins Mäulchen stopfte. "Warum fragft du nift einfaf feinen Vater perfönlich?", fragte sie ihre Besitzerin mit vollem Mund, "Immerhin arbeitet er ab jetft für dif, und wenn fif jemand mit Adrien aufkennt, dann wohl er!"
"Vermutlich hast du recht", stimmte Nathalie ihr zu und senkte den Kopf wieder, ihre Hand führte sie zu der unscheinbaren, türkisfarbenen Brosche an ihrer Bluse, in welcher eine antike, übernatürliche Kräfte schlummerten, von denen die meisten Personen nicht mal ansatzweise etwas verstehen würden, einschließlich sie selbst.
Und trotzdem lag es in ihrer alleinigen Verantwortung, diese Macht für den wichtigsten Zweck der Welt einzusetzen: Den Schutz der Menschheit.
"Hoffen wir mal darauf, dass ich sie heute nicht nochmal einsetzen muss", murmelte sie mit einem schwer unterdrückten Seufzer, und nachdem Duusu ihr Mahl beendet hatte, verstaute sie das Schmuckstück sicher in ihrer Jeans, "Mayura soll heute nicht gebraucht werden."

Ein Klopfen an ihrer Bürotür veranlasste Nathalie dazu, von ihrem Aktienstapel aufzublicken. "Ja, bitte? Es ist offen."
Wie bereits erwartet schob sich ein adrett gekleideter Gabriel Agreste in den stillen, abgeschirmten Raum, in seinen Armen balancierte er zwei frisch zubereitetes Kaffeetassen und einige prall gefüllte Aktenmappen. "Tut mir leid, dass es etwas länger gedauert hat", begann der Modedesigner mit seiner wohlklingenden Bassstimme eine begrüßende Entschuldigung und legte die getragene Ware vorsichtig auf ihrem Pult ab, "Aber leider gehören wir beide nicht zu den einzigen Geschäftsleuten, die die Wirkung von Kaffee dringend benötigen."
"Das macht nichts", versicherte Nathalie ihrem gestrig gekürten persönlichen Assistenten mit einer abwertenden Handbewegung. Das Problem mit der ewig langen Schlange vor der Kaffeemaschine im Tour Montparnasse war ihr schon vetraut und hatte sie in der Vergangenheit Einiges an nervlicher Geduld gekostet. Doch seitdem die Dunkelhaarige es sich zur Angewohnheit gemacht hatte, sich ihr unangefochtenes Lieblingsgetränk bei einem Laden in der Nähe auf dem Weg zur Arbeit zu besorgen, blieben ihr diese Strapazen erspart.
"Es war überaus zuvorkommend von Ihnen, daran zu denken", fuhr Nathalie pragmatisch fort und lehnte sich im Sitzen nach vorne, um mit Geschick eine der weißen Porzellantassen an der Untertasse anzuheben. Der willkommene, dampfende Geruch von aufgebrühtem Espresso mit Milch umhüllte dabei ihre Nase. "Auf dem Weg hierher konnte ich mir wegen eines Zwischenfalls im Verkehr keinen To-Go-Kaffee anschaffen, aber wie dem auch sei. Sind das Ihre Hypotheken?"
Der Blick der Geschäftsführerin richtete sich auf die Aktenmappen, welche von Gabriel mit einer saloppen Geste auf der Tischplatte abgelegt wurden. Es wirkte, als würde der Modedesigner die Last dieser finanziellen Bürde nicht ertragen können, und zwar nicht im physischen Bezug. "Jede einzelne, die ich bisher in meinem Leben aufgenommen habe", stöhnte er reumütig und setzte sich auf den Stuhl von ihr hin, "Ich war stets ein zu besonnener Mann, da ich mich nie um irgendwelche Geldprobleme sorgen musste. Jetzt darf ich die Suppe dafür auslöffeln."
"Deswegen sollten Sie es sich selbst verbieten, in Selbstmitleid zu versinken", meinte sie ruhig und schob die aus allen Nähten platzenden Hypothek-Aufzeichnungen zu sich hinüber, um sich derer anzunehmen, "Ich habe Ihnen schließlich nicht aus einer Laune heraus das Abkommen angeboten, ich werde Ihnen selbstverständlich dabei helfen. Es gibt kein Problem ohne auffindbare Lösung."
Obwohl Nathalie nach wie vor auf die Aktenmappen schaute, hatte sie das unerklärliche Gefühl, von Gabriel angesehen zu werden. Doch als sie den Kopf wieder hob, um ihn etwas bezüglich seiner Finanzen zu fragen, bildete die Miene ihres Gegenüber sein gewöhnliches, professionelles Antlitz, und sie beschloss, nicht mehr darüber nachzudenken.
Eine Stunde verstrich, in der sich beide Erwachsene intensiv dem Fortbestand des Agreste-Anwesens widmeten und eingehend darüber diskutierten, wie sie die übrig gebliebenen Einkommensüberreste am Klügsten in sein vor dem Zerfall stehenden Label investieren sollen.
"Hm, ich entdecke nirgendwo Schulgebühren in keiner ihrer Jahres-Ausgabensführer", bemerkte Nathalie stutzig und blätterte noch einmal zum Inhaltsverzeichnis, welches sie mit konzentriertem Blick überflog, "Sind Sie sicher, dass Sie mir auch wirklich jede ihrer Finanzaktien mitgebracht haben?"
"Absolut sicher", entgegnete Gabriel mit einem Kopfnicken, "Mein Sohn besucht keine öffentliche Schuleinrichtung. Er wurde von klein auf Zuhause von einer Hauslehrerin unterrichtet, ihr Gehalt müsste also in einem der Ordner verzeichnet sein."
Überrascht blinzelte Nathalie ihr gegenüber an. "Achso, dann war er heute früh also nur draußen spazieren?", begriff sie und ließ dabei leichte Verblüffung zeigen, "Der Junge hat auf mich so desorientiert gewirkt, da habe ich mir wohl nur etwas zusammengebraut..."
Skeptisch zog Gabriel die Augenbrauen zusammen. "Wovon reden Sie?", fragte er und musterte sie aufmerksam, da sein einziger Sohn offenbar zu einer sensiblen Gesprächsthematik gehörte.
"Nun ja, ich bin ihm heute zufällig bei der Avenue de Suffren über den Weg gelaufen, als ich einem Freund von mir eine Kleinigkeit nach-"
Plötzliches Entsetzen spaltete die Miene des Modedesigners und er sprang vor lauter Schreck fast vom Stuhl auf. "Er war ganz alleine in der Stadt unterwegs?", stellte er mit gehobener Stimmlautstärke fest, "Ohne seinen Bodyguard?"
"Ja", antwortete Nathalie verdutzt, welche seine Reaktion nicht zu Begreifen vermochte, "Zumindest erschien mir das so."
Wie von der Tarantel gebissen stand Gabriel auf, zückte energisch sein Handy und wählte eine Nummer, vermutlich die seines Sohnes. Es klingelte mehrere Male, doch Adrien schien den Anruf nicht anzunehmen.
"Nur die Mailbox", stellte der Blonde fest, Unruhe und helle Panik spiegelten sich in seinem Tonfall wider. Dann wandte er sich an seine Vorgesetzte und starrte sie so dermaßen anklagend an, dass sich Nathalie innerlich auf die ihr entgegengeschleuderte Wut des Modedesigners rüstete.
"Wieso haben Sie mir das nicht sofort erzählt?", warf er ihr entzürnt vor, das graublaue Augenpaar funkelte sie nachdrücklich an.
"Ich hatte es nicht für sonderlich notwendig gehalten", erwiderte die Dunkelhaarige möglichst beherrscht, "Adrien erscheint mir schließlich wie ein vernünftiger Jugendlicher. Er wird bestimmt nicht gedankenlos irgendwo hinlaufen."
"Ohne seinen Bodyguard und meine ausdrückliche Erlaubnis lasse ich ihn nie aus dem Haus!", entgegnete er ihr verbissen und wirkte nach wie vor unumstimmbar, "Draußen könnte ihm etwas zustoßen! Das haben Sie doch gestern mitbekommen, oder nicht? Er hätte sterben können, verdammt!"
Die Ereignisse am Hôpital Necker spielten sich wiederholt in Nathalies Hinterkopf ab, und nun konnte sie die Angst ihres Assistenten besser begründen. "Aber er lebt, und der Brandstifter hat sich seit gestern nicht mehr gezeigt", rief sie dem Modedesigner behutsamer ins Gewissen, "Niemand in Paris lässt sich von diesem Anschlag einschüchtern, ebensowenig ihr Sohn. Wäre es daher falsch, ihm die Freiheit zu schenken, die jedem Kind in seinem Alter zusteht?"
Den letzten Satz hätte sie am liebsten zurückgekommen, denn kaum hatte Nathalie ihre Frage beendet, starrte Gabriel sie mit einem solch hartherzigen Blick an, dass ihre Oberarme auf einmal zu Frieren begannen.
"Ja, denn er ist nicht wie die anderen", entgegnete er mit kalter Entschlossenheit in der Stimme, "Es ist mein Sohn, und Sie entscheiden nicht, wie ich mein Kind zu erziehen habe!"
"Das wollte ich damit auch nicht-"
"Sie mögen sich ja ausgezeichnet mit Finanzen und dergleichen auskennen", unterbrach er sie mit unverändertem Ingrimm, "Aber ich werde Ihnen mit Sicherheit nicht gestatten, sich in meine Familienangelegenheiten einzumischen. Adrien ist nicht erreichbar, deshalb werde ich sofort seinen Bodyguard anrufen und ihn ausfindig machen, egal, was Sie davon halten." Mit zornigen Schritten machte Gabriel Anstalten, das Büro zu verlassen, doch drehte sich an der Tür nochmals zu ihr um. "Sollte ihm etwas zugestoßen sein, mache ich Sie dafür verantwortlich."
Überrumpelt von so einem hohen Maß an übertriebener, väterlicher Fürsorge folgte Nathalie ihm geistesgegenwärtig, entgegen all der unterschiedlichen Meinungen, die sie über das Thema Erziehung hegten.
"Ich werde Sie begleiten", beteuerte die Geschäftsleitung von Largesse mit einem kleinen Seufzen, "Zwar glaube ich nicht, dass Ihre Vermutungen stimmen, aber ich kann Sie in so einem Zustand nicht alleine durch die Gegend fahren lassen."
Gabriel, der schon energisch auf den Fahrstuhl zustakste, wandte er sich über die Schulter zu ihr und nickte knapp. "Danke", brachte er tonlos über die Lippen, und es klang nicht wie eine ehrlich gemeinte Bemerkung. Doch das störte Nathalie im Augenblick eher weniger.
Stattdessen galt ihre Sorge dem blonden Jungen, welcher unfreiwilliger Zeuge ihrer verheimlichten Kampfkünste geworden war.
Hoffentlich legen die 'Les Crânes Infâmes' für den Rest des Tages eine Pause in ihrer kriminellen Laufbahn ein...

LE PAON ET LE PAPILLON - Un Amour Complexe 🐦💘🐛Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt