KAPITEL 16 - Medienzirkus

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"Bist du soweit, Nadja?"
Hastig trank sie noch einen letzten, zügigen Schluck aus ihrer Wasserflasche, bevor sie diese zuschraubte und zur Seite stellte, um sich vor der Kamera zu positionieren und ihren Studio-Kollegen mit einem Nicken das Startsignal zur heutigen Sendung gab. "Es kann losgehen."
Das blendende Licht der Scheinwerfer wurde auf den Greenscreen gerichtet, und Nadja überprüfte nochmal die wichtigsten Themen des Tages in Gedanken durchzugehen, welche sie auf ihrem Tablet notiert stehen hatte. Dann wandte sie ihren Blick geübt in die Kameralinse und begrüßte ihre Zuschauer mit ihrem üblichen Standardspruch:
"Seien Sie gespannt, es wird brilliant!", brachte sie so enthusiastisch wie immer über Lippen, "Hier ist Nadja Chamack mit den aktuellsten Nachrichten aus aller Welt, am Mittwoch, dem 9. März 2016, um 7 Uhr 45!"
Früher hatte die allseits bekannte Reporterin unbeschreibliches Lampenfieber ertragen müssen, welche vor jedem Live-Bericht von ihrem Körper beschlagnahmte. Doch inzwischen hatte Nadja so viele Erfahrungen in ihrem manchmal nervenaufreibenden, aber stets aufregenden Beruf gesammelt, dass sie sich heutzutage kaum mehr davor scheute, sich dem Rest der Welt zu präsentieren.
"Gestern nachmittag kam es in Frankreichs Hauptstadt zu weiteren, mehreren Ereignissen mit möglichen terroristischen Hintergründen", übermittelte Nadja ihren Zuschauern die erste und vermutlich wichtigste Tagesmeldung, "Noch vor zwei Tagen hatte sich am Hôpital Necker im Bezirk Montparnasse ein fürchterlicher Brandanschlag zugetragen, bei dem es viele Verletzte, jedoch keine Toten gegeben hat. Jetzt mussten sich die Einwohner der Millionenmetropole erneut vor einem Angriff fürchten, hinter dem wiedermal die Machenschaften des inzwischen berüchtigten Phönixkönigs steckten: An der Avenue de Suffren wütete laut Augenzeugen ein Feuerspucker in Wrestlingkleidung, welcher zahlreiche Fahrzeuge eigenhändig demoliert hatte. Etwa zur selben Zeit trieb eine fünfköpfige Gruppe aus Clowns ihr Unwesen am Collège Françoise Dupont und versetzte Schüler und Lehrer dort in Angst und Schrecken. Nur Stunden später drohten die Verantwortlichen für diese Vorkommnisse - ein etwa Achtzehnjähriger im Gepardenanzug und ein junger Mann mit Zylinder, Augenmaske und Zylinder bekleidet - eine entführte Geisel den Eiffelturm hinabzuwerfen. Doch dank dem selbstlosen Einsatz dreier bislang unerkannter Helden in Verkleidungen konnte den Widersachern Einhalt geboten und die Geisel - eine vierzehnjährige Schülerin der Françoise Dupont-Schule, welche anonym bleiben möchte - unversehrt geborgen werden. Von den unbekannten Verbrechern sowie dem Phönixkönig fehlt nach wie vor jegliche Spur, und die Retter der Not konnten ebenfalls nicht identifiziert werden, jedoch gebühren die Betroffenen ihnen tiefste Dankbarkeit. Der Hauptoberkommissar der Pariser Polizei, Roger Raincomprix, wird uns später in der Sendung in einem exklusiven Interview dieses Thema näher erläutern, also bleiben Sie dran! Und jetzt folgt Aurore Beauréal mit dem Wetterbericht."
Nach ihrem Vortrag wurde sie von den Produzenten wie üblich in den höchsten Tönen gelobt, die Aufmerksamkeit wurde nun der Vorhersage der Wetterfee gewidmet. Doch trotz dieses Lobes war Nadja Chamack unzufrieden mit sich selbst. Dieses ständig aufkommende Gefühl ließ sich nicht schönreden, so sehr sie es innerlich auch versuchte.
Sie brauchte dringend eine Sensationsmeldung. Oder sie würde sich selbst nie wieder als eine gute Reporterin bezeichnen können.

"Was meinst du mit Sensationsmeldung?"
"Ich glaube, es liegt einfach an einer geistigen Präsenz als Medienfrau", erklärte Nadja ihrem guten Freund und Arbeitskollegen Alec Cataldi nach ihrer Schicht, während sie an ihrem frisch gebrühten To-Go-Kaffee nippte und sich beinahe die Zunge verbrannte, "Seit Wochen fehlt mir die Leidenschaft zum Nachforschen, und das, obwohl dieser mysteriöse Phönixkönig irgendwo in Paris' dunkelsten Gassen haust und vermutlich noch mehr von solchen Terroraktionen plant."
Über Alecs breite Lippen zog sich ein liebevolles Lächeln. "Vielleicht liegt es auch an deinem kleinen Engel, der dir so viele Sorgen bereitet?"
Beim Gedanken an ihre sechsjährige, quirlige Tochter Manon spürte Nadja natürlich eine wohlige Wärme in ihrer Brust. "An manchen Tagen raubt mir dieser kleine Engel den letzten Nerv", gestand die Reporterin und raufte sich das magentafarbene, kurz geschnittene Haar, "Aber trotzdem schmerzt es mir jedes Mal das Herz, wenn ich sie Alya zum Babysitten übergeben muss."
"Du bist eine großartige Mutter!", entgegnete Alec beharrlich und schwenkte dabei nachdrücklich mit seinem leergetrunkenen Kaffeebecher durch die Luft, wodurch aus Versehen ein Tropfen des braunen Getränks auf sein milchblaues, figurbetontes T-Shirt, was Nadja ein belustigtes Schmunzeln abgewann. "Du musst dir ab und zu halt eine Auszeit nehmen, privat und beruflich. Sonst steigt dir der Stress, den du dir selber machst, vielleicht irgendwann zu Kopf und dir fallen mit der Zeit alle Haare aus, sowie mir."
"Du hattest doch schon immer eine Glatze", stellte die Reporterin richtig und musste leicht auflachen, als Alec hartnäckig versuchte, den entstandenen Kaffeefleck auf seinem T-Shirt mit einem Taschentuch wegzurubbeln.
"Ich weiß, aber ich möchte nicht, dass du bald genauso aussiehst wie ich", erwiderte ihr Kollege grinsend und lehnte sich mit verführerischer Miene auf dem Tisch zu ihr hinüber, sodass das Sonnenlicht seine braun gebrannte Haut bestrahlte, "Du hast doch so schönes Haar, das weiß inzwischen auch ganz Paris!"
Die beiden Freunde lachten schallend, wodurch sie die Aufmerksamkeit einiger anderen Gäste des Freiluft-Cafés auf sich zogen. Aber dank ihres Jobs konnte Nadja inzwischen von sich behaupten, ihre Schüchternheit vollständig überwunden zu haben.
Da wurden der Blick in Alecs braunen Augen plötzlich weicher, was für den stets aufgeweckten und humorvollen Moderator sehr ungewöhnlich war. "Hör mal, Nadja, da gibt es etwas, dass ich dir schon seit einiger Zeit sagen wollte..."
Die Reporterin lauschte ihrem Kollegen gespannt, da schnappte sie plötzlich einen Satz von zwei anderen Besuchern des Cafés auf, welche sich einen Tisch entfernt von ihr ausgiebig miteinander unterhielten. "Die arme Marinette", seufzte die Stimme eines jugendlichen Mädchens trübsinnig auf, "Sie musste gestern so viel mitmachen bei der Geiselnahme..."
"Ja wirklich, die Arme", stimmte eine höhere, ebenso gedrückte Mädchenstimme ihrer Gesprächspartnerin zu, "Sie hat gestern so viel durchgemacht!"
Marinette? Hieß nicht so auch die Tochter ihrer Freundin, der Zuckerbäckerin Sabine Cheng?
Wie ferngesteuert erhob sich Nadja von ihrem Stuhl und stakste auf die zwei Mädchen zu, um sie unverblümt anzusprechen. "Entschuldigt bitte", machte sie sich bemerkbar, "Ich möchte nicht indiskret sein, aber habt ihr nicht zufällig eben von dem gestrigen Vorfalls am Eiffelturm geredet?"
Die größere der Jugendlichen - ein schlank gebautes, überwiegend dunkel angezogenes Mädchen mit violetten Haarsträhen - blickte unsicher zu ihr auf. "Ähm, ja, Madame", antwortete sie mit gesenkter Stimme, "Unsere Freundin Marinette wurde nämlich zur Geisel genommen, aber zum Glück geht es ihr heute wieder besser."
Das andere Mädchen - eine zierlichere Gestalt mit freundlichen, blauen Augen, einem sommerblonden Fransenhaarschnitt und fast gänzlich rosafarbenen Klamotten - nickte beipflichtend. "Diese beiden fiesen Kerle wollten sie tatsächlich den Eiffelturm hinabstoßen! Marinette muss sicher fürchterliche Ängste ausgestanden haben!"
"Sagt mal - ich möchte nicht aufdringlich wirken - aber wo finde ich eure Freundin? Ich bin nämlich von den lokalen Nachrichten und würde ihr gerne der Ereignisse bezüglich ein paar Fragen stellen, die vielleicht den dazu laufenden Ermittlungen ein wenig weiterhelfen könnten."
"Bien sûr, Madame!", schoss es sofort aus der äußerst hilfsbereiten Blonden heraus, "Sie wohnt in der Dupain-Cheng-Bäckerei an der Rue Gotlib 12, und Sie würden sie heute auch ganz bestimmt Zuhause antreffen!"
Also doch! Es musste sich bei der entführten Minderjährigen um die Tochter von Sabine handeln, darin bestand kein Zweifel!
"Merci beaucoup, ihr beide habt mir sehr geholfen!", rief Nadja ihnen noch zu, bevor sie ihre Umhängetasche schulterte und eilenden Schrittes aus dem Café stürmte - dabei bezahlte sie vorher natürlich noch die Rechnung für ihr Getränk, welche sie ungelenk auf die Tischplatte klatschte.
"H-Hey!", stammelte ein völlig überrumpelter Alec und hetzte seiner Kollegin mühevoll nach, "Nadja, warum hast du es plötzlich so eilig? Wohin willst du?"
"Zur Dupain-Cheng-Bäckerei", verkündete die Reporterin feierlich und schleifte ihren Freund eifrig am Arm hinter sich her, "Ruf gleich die Chefin an und sag, sie soll uns das Kamerateam nachschicken! Auf uns wartet eine Sensationsmeldung, mein Lieber - denn heute finden wir heraus, wer die Helden von Paris wirklich sind!"
Nadja sprudelte nur so vor Übereifer. Und nichts würde sie hier und heute davon abhalten können, nach den Sternen zu greifen.
Denn wenn die Einschaltquoten in die Höhe schnellen wollten, dann musste man ihnen doch einen kleinen Schubser geben, oder?

LE PAON ET LE PAPILLON - Un Amour Complexe 🐦💘🐛Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt