KAPITEL 2 - Privatgespräche

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Geübt balancierte Winston die Buttereclairs auf dem Silbertablett in seiner Hand und eilte damit in zügigen, vorsichtigen Schritten zum Fahrstuhl. Als die vergoldeten Türen sich schiebend öffneten und der Butler eintrat, purzelte eines der Süßgebäckstücke beinahe vom Teller, doch er schaffte es gerade noch rechtzeitig, den Flüchtigen mit den Fingerspitzen zu schnappen und es wieder an seinen ursprünglichen Platz zu setzen. Auf dem Amaturenbrett betätigte Winston den Kopf für den höchsten Stock, und die Fronten des Aufzugs verschlossen sich vor seiner Nase.
Die Fahrt nach oben zog sich in die Länge - angesichts der Höhe des Gebäudes keine wunderliche Tatsache. Der Butler hatte sich schon seit Langem an das ständige Nutzen des Fahrstuhls gewöhnt, da die Stufen eine Last für seine eher kurzen Beine darstellte. Bei der Menge an alltäglichen Pflichten, welche Winston zu erfüllen hatte, wäre es auch sehr umständlich, würde er bei jedem seiner Wege das Treppenhaus rauf- und runterhechten.
Ein melodisches Klingeln verriet, dass seine Fahrt endete, und der Butler verließ mit aufrechter Haltung den Aufzug, das Tablett mit den verführerisch duftenden Eclairs hielt er gerade auf seiner Handfläche. Gezielt steuerte Winston auf eine mit Edelgold ausgekleidete Doppeltür zu, die wie der Eingang zu einer Festung am Ende des mäßig beleuchteten Flurs erschien. Der Anblick dieses kolossalen, architektisch betrachtet übertriebenen Tores jagte ihm jedes Mal einen furchtsamen Schauer über den Rücken. Selbst heute war ihm die schiere Bauweise des Wolkenkratzers ein Graus, die seinem Geschmack einfach nicht zusagte und offen gestanden, auch einschüchterte.
An der Seite der mächtigen Türen gab es einen unscheinbaren, grünen Knopf, welchen Winston drei Sekunden lang gedrückt hielt - keinen Moment länger oder kürzer. Aus der Lautsprecheranlage darüber erklang knarzend eine ihm vertraute, butterweiche Stimme. "Ja?"
"Ich bringe die Eclairs", antwortete der Butler, nachdem er seine Stimme räusperte. Die Worte wählte er immer sorgsam aus, da man mit der Person auf der anderen Seite der Leitung unbedingt auf die Umgangsform achten musste - dessen Gemüt konnte nämlich so blitzartig umschlagen wie die Gezeiten des Meeres. "Wie Sie es wünschten."
Einen Herzschlag später gab es ein geräuschvolles Klacken, und die gewaltige Doppeltür schwang mit ächzender Gemächlichkeit auf. Winston bewahrte die Fassung, während er über den antiken Perserteppich stakste in einen prunkvoll eingerichteten Raum. Und mit "prunkvoll" war das enormste Ausmaß an Prunk gemeint: Die Wände des Zimmers wurden von edelgoldenen Verzierungen verschnörkelt, und noch dazu verdeutlichten groteske Selbstportraits ungemeinen Reichtum. Hinter verstaubten Glaslampen erwärmten wabernde Flammen die kühle Luft, ebenso tat es ihnen ein breit ausgebauter Backstein-Kamin nach, in dessen Inneren lodernde Feuerzugen knisterten. Ein beeindruckendes Panorama-Fenster erlaubte einen unbeschreiblichen Ausblick auf die nächtliche Skyline einer Millionenstadt, die Silhouetten der Gebäude zeichneten sich geheimnisvoll vom dem tiefen Dunkelblau des Nachthimmels ab. Auf einer teuren Ledercouch, dessen zerflederte Rückseite Winston zugewandt war, saß ein stattlicher, breitschultriger Mann, der seine Aufmerksamkeit gerade der Tagesausgabe einer Zeitung in seiner Hand schenkte.
Trotz der Wärme und der Ruhe lag eine unheimliche Anspannung in der Atmosphäre, die einem jeden anderen wie Elektrizität im Blut kitzeln würde. Doch der Butler war dieses unwohle Gefühl gewohnt. Mit natürlichen Ängsten konnte er schon immer gut umgehen. Zumindest, seitdem er mit den Herren vor ihm Bekanntschaft gemacht hatte, dessen Haarspitzen sich ebenso wild und ungezähmt nach oben schlossen wie das Kaminfeuer.
Mit einer losen Handbewegung deutete der Mann auf der Couch an, dass Winston sich Bewegen möge - ohne seine Anwesenheit auch nur in geringster Weise zu registrieren, aber darin hatte der Butler bereits Erfahrung gesammelt.
"Schon vom Neuesten gelesen?", fragte sein Arbeitgeber ihn mit mildem Interesse, während er den Teller mit den Eclairs mit viel Geduld vom Tablett hob und ihn auf der gläsernen Fläche eines vollgeräumten Couchtisches ablegte. Dabei teilte Winston keinen Augenkontakt mit seinem jüngeren Arbeitgeber.
"Gäbe es denn einen bestimmten Anlass dazu?", entgegnete der Butler vorsichtig, ohne seinem Unterton Schärfe zu verleihen.
Mit einem schmalen Lächeln faltete der schlaksige Mann die Zeitung und warf diese lose neben den Eclairteller, ohne das gestapelte Süßgebäck in Wallung zu bringen. Bewundernswert, diese Präzision, dachte der Butler sich im Stillen.
"Nicht wirklich", meldete sein Arbeitgeber mit einer abwertenden Geste seiner Hand, und lehnte sich gegen die Lehne seiner Couch, zeigte den vollen Genuss der Entspannung - ein relativ seltener Anblick, für dessen Verhältnisse. "Mein kleiner Piepmatz macht sich nur weiterhin berühmt bei ihrem Gefolge. Als selbstlose Heldin wird sie gepriesen." Mit spitzen Fingern griff er nach einem der Buttereclair und fuhr damit theatralisch gelangweilt durch die Luft. "Als Retterin in der Not, Beschützerin der Gerechtigkeit und so weiter. Unerträglich dieser Rummel um ein paar Augenzeugen, die behaupteten, sie hätten einen Kampf beobachtet." Die Miene des Mannes verfinsterte sich, als dieser Anstalten machte, das mundgerechte Gebäck zu verspeisen. "Dieses Gesindel findet wohl keine bessere Beschäftigung als sich auf Themen zu stürzen, deren wahren Sinn sie sich nicht mal ansatzweise ausmalen könnten."
"Die Medien neigen häufig zur Übertreibung", kommentierte Winston beiläufig und wandte sich dem Kamin zu, um die Flammen darin mit einem Schürhaken zu bändigen, "Nur so findet die gemeine Publik Gefallen an ihren Geschichten. Durch überzogene Erzählweise wird selbst das unscheinbarste Geschehnis zur Senastionsmeldung."
Das Lächeln seines Vorgesetzten wurde ein wenig weicher. "Du schaffst es immer,die richtigen Worte zu finden, Winston", merkte dieser nachdenklich an.
Der Butler hatte solch ein Kompliment nicht erwartet, doch dies zeigte er nicht offen. "Ich tue nur meine Pflicht Ihnen gegenüber, Sir", erwiderte er und verschränkte einen Arm hinter seinen Rücken, während er mit dem Schürhaken die geschwärzte Kohle zurechtkratzte.
Mit einem dezenten Nicken schloss sein Arbeitgeber das Thema ihrer Unterhaltung ab und für eine Weile erfüllte nur das besänftigende Knistern der Feuerzungen den Raum.
Es dauerte nicht lange, da fand der sitzende Mann einen weiteren Anlass, die Stille zu brechen. "Weißt du, was mich an Vögeln am Meisten fasziniert?"
Winston beendete das Schüren der Flammen und ließ den Haken auf der Hervorhebung liegen, dessen Ende nun in einem hitzigen Orange glühte. "Ich hege die Vermutung, dass ich diese Informationen gleich von Ihnen erlangen werde, Sir."
"Ihr Intellekt." Sein Vorgesetzter löste sich aus seiner bequemen Position, um sich nach vorne zu lehnen und eine ausgestopfte Rauchschwalbe zu bestaunen, welche mit leblosen Augen auf dem gläsernen Couchtisch ruhte, etwas abseits von der Zeitung den Eclairs. "Sobald sie in einem anderen Lebewesen eine Bedrohung wahrnehmen, zögern sie keine Sekunde und ergreifen die Flucht." Seine langen Finger glitten behutsam über das kobaltblaue Gefieder der Antiquität, vom Kopf über die Flügel bis zu der Schwanzwurzel. "Ihre Eier brüten sie in Nestern aus, welche sie aus Zweigen zusammenpflücken und ihren Nachwuchs ziehen sie weit oben im Schutz der Baumkronen auf." Gezielt packte der Vorgesetzte Winstons eine der Flügelfedern mit den Fingerspitzen. "Ihre Beute sieht sie nicht kommen, denn sie stürzen aus der Luft in ihre Richtung und manövieren sich dabei perfekt in ihre Flugbahn zurück. Einfach erstaunlich diese Tierchen, wenn man darüber nachdenkt."
Wenige Sekundenbruchteile vergingen, und der Mann zupfte eine einzelne der Federn lautlos aus. Seine grünen Augen musterten sie fiebrig, als würden sie jede kleinste Faser studieren wollen. Er streichelte mit einem Feingefühl über die Borsten, welches Winston in große Verwunderung brachte.
Ein Schatten flog flüchtig über das markante Gesicht des Mannes, und aus dem verblümten Lächeln wurde ein heimtückisches Grinsen. "Doch trotz all dieser beachtlichen Eigenschaften gibt es eine Schwäche, die man ihnen zuordnen kann."
Mit wachsendem Unbehagen beobachtete Winston, wie sein Arbeitgeber aus der Seitentasche seines Sakkos ein Feuerzeug hervorzog. Mit dem Daumen ließ er klickend eine kerzenähnliche, ellipsenförmige Flamme entstehen, die er nun langsam unter die blaue Feder hielt. "Wenn man sie in einen Käfig sperrt oder ihnen die Flügel stutzt, werden sie hilflos und verletzbar - da bringt ihnen ihr ausgefuchster Verstand nicht mehr viel."
Die Feder in seiner Hand begann, vom Stiel aufwärts Feuer zu fangen. Obwohl sein Vorgesetzter sie noch fest in den Fingern hielt, während sie sich in eine einzige, zuckende Flamme verwandelte, beschwerte er sich nicht über die Hitze in seiner Hand. Stattdessen betrachteten seine giftgrünen Augen den Vorgang der Verbrennung mit beängstigender Zufriedenheit, und sein Grinsen wurde noch breiter.
"Es dauert nicht mehr lange, Winston", gab der Mann ihm bekannt, die Miene ein selbstgefälliges, bedrohliches Freudenbild, "Dann werde ich es schaffen und meinem kleinen Vögelchen endgültig das Gefieder rupfen."
Nach dieser Verkündung stieß er ein schallendes, lang anhaltendes Lachen aus, und die Feder in seiner Hand, deren schöner, blauer Glanz das Feuer vernichtet hatte, rieselte zu einem verkohlten Aschehäufchen auf den Perserteppich, welchen Winston mit einem innerlichen Kopfschütteln bedauerte.

LE PAON ET LE PAPILLON - Un Amour Complexe 🐦💘🐛Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt