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Als ich am nächsten Morgen aufwachte war das Erste was ich sah Nialls Arm.

Ich hob den Blick und er traf direkt auf Nialls eisblaue Augen.

Peinlich berührt setzte ich mich auf und murmelte: „Super, jetzt haben wir beide auf dem Boden geschlafen.“

Ich sah seine Reaktion nicht, aber ich konnte sie mir denken: ein gleichgültiges ist-mir-egal-Schulterzucken. Aber nein. Ich musste mich langsam an den 'neuen' Niall gewöhnen. Den besorgten, liebevollen Bruder den ich mir immer gewünscht hatte. Naja, Bruder...

„Heute Nacht schläfst du aber auf dem Bett“, sagte er. Er klang hellwach.

„Sag mal, wie lange liegst du da eigentlich schon und stalkst mich? Also- warte. 'Heute Nacht'? Aber das gestern war... eine Ausnahmsituation. Du hast mir geholfen weil ich nicht wusste wo ich hinsoll...“ Bei diesen Worten schnürte sich mir der Hals zu und meine Stimme brach. Ich räusperte mich, doch Niall kam mir mit dem Reden zuvor: „Und, weißt du's heute?“

Ich sagte nichts, sondern stand auf und streckte mich. Niall sog scharf Luft ein.

Erschrocken fragte ich: „Was ist?“

„Dein Bein“, erwiderte er und ich sah an mir herunter. Fast hätte ich gekotzt, so widerlich sah das Ding aus. Es war rot geschwollen und sah ziemlich übel aus.

Zitternd zog ich die Hose wieder darüber und versuchte, nicht mehr darüber nachzudenken.

„Warte hier“, sagte Niall, stand auf, ging die Treppe hoch und verschwand in der Tür.

Ich wusste nicht, was ich tun sollte, deshalb trat ich an sein Regal und las die Bücherrücken. Überrascht entdeckte ich ein kleines Kinderbuch, das zwischen all den schlichten blau- und schwarztönen grün hervorstach.

Das Buch von allen Dingen.

Ich blätterte wahllos darin herum und las einige Zeilen. Auf manchen Seiten standen an der Seite klitzekleine Kommentare und manche Zeilen waren unterstrichen.

Ich hörte Niall die Treppe herunterkommen und schob das Buch schnell zurück in seine Lücke, was mir natürlich gerade jetzt nicht gelingen wollte.

„Ich weiß nicht, willst du dich irgendwie hinsetzen oder so?“, fragte Niall und kam mit dem Verbandkasten in der Hand näher.

Ich setzte mich hin und haltlos fiel das kleine Büchlein auf den Boden. Niall schob das Hosenbein vorsichtig hoch und öffnete den Verbandkasten.

„Das Buch von allen Dingen, hm?“, fragte er und ich spürte, wie mein Gesicht warm wurde.

„Es handelt von einem kleinen Jungen, der Dinge sieht, die niemand sonst sieht und dessen Vater seine Mutter und ihn schlägt. Seine Schwester und seine Mutter wehren sich und irgendwie finde ich das total beeindruckend. Ich weiß, das klingt sicher lächerlich...“

„Nein, überhaupt nicht.“

Auch Nialls Gesicht wurde leicht rot und wieder überschwemmte mich eine Welle der Zuneigung für diesen neuen, fremden Niall.

Niall desinfizierte die Verbrennungen und verband sie, sodass meine Beine aussahen wie die einer Mumie.

„Kann ich es lesen?“, fragte ich leise.

„Sicher, wenn du willst. Ich hätte nicht erwartet, dass es dich interessiert.“

„Ich hätte nicht erwartet, dass dich sowas interessiert“, erwiderte ich und nahm das Buch.

„Ich mag auch die Art, wie es geschrieben ist. Irgendwie so... selbstverständlich losgelöst.“

Ich hörte ihm nur halb zu, denn ich hatte bereits mit lesen angefangen.

the never minded ☯ Horan [ABGEBROCHEN]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt