Kapitel 2: Familiengeschäfte

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In der Nähe von Paris, April

Er hatte also zugesagt. Er hatte
wirklich zugesagt, sich auf diesen Wahnsinn einzulassen. Aber es hatte sich
gleich in den ersten Minuten gelohnt. Großtante Beátrice (er fand es immer noch
befremdlich sie so zu nennen) hatte ihr Versprechen gehalten: Sie übergab ihm
einen Brief seiner Mutter.

Lieber Theo, wenn du diese
Zeilen liest haben wir deinen 18. GeburtsagGeburtstag
nicht mehr erlebt. Deine Großtante Beátrice, von der du bis vor Kurzem
wahrscheinlich nicht einmal wusstest, hat Kontakt zu dir aufgenommen. Du musst
wissen, dass es uns schrecklich Leid tut dir das angetan zu haben. Wir haben
die Risiken stehtsstets
bewusst auf uns genommen, um unser Haus zu verteidigen. Offenbar waren wir dem
zuletzt nicht mehr gewachsen. Wir haben dich stets geliebt und das was wir
getan haben, haben wir auch für dich getan. Unser Haus kann über die Zukunft
der Welt bestimmen, doch die Konkurrenz ist mächtig und wir müssen
stetig unsere Stellung verteidigen um zu überdauern. Wir vertrauen darauf,
dass auch du dies schaffen kannst. Deine Tante wird dir stets zur Seite stehen.
Mama und Papa

Also war es kein Autounfall, der
ihm damals seine Eltern genommen hatte. Ob er wissen wollte was es wirklich
gewesen war, war ihm noch nicht ganz klar. Allerdings war es ohnehin fraglich
ob er es in Erfahrung bringen können würde. Denn wenn er eines gelernt hatte
seit seine Tante mit ihm in einer Privatmaschine auf ein Landgut in der Nähe
von Paris geflogen war, dann dass es in diesem Adelshaus gar nicht so einfach
war an Informationen zu gelangen. Den vergangen Monat hatte er auf dem Landgut
verbracht. Das große Landhaus mit unzähligen Gästezimmern, großen Zimmern mit
Kaminen, alten Couches und Sesseln wie Besprechungszimmern, einem großen
Konferenzraum und einer eigenen Bibliothek schien eine Art Stützpunkt der
Familie zu sein, denn er und Beátrice waren nicht die Einzigen die dort ein und
aus gingen. Da war zum Beispiel dieser blonde Mittzwanziger, hoch
aufgeschossen, gebräunt, blaue Augen, dem Akzent nach Niederländer. Außer ihm
gab es da noch diese Italienerin. Ihre Nationalität war unschwer zu bemerken,
denn immer wenn sie sich über etwas aufregte (was bei ihrer aufbrausenden Art
oft vorkam) begann sie lauthals auf Italienisch zu fluchen. Er hatte die Namen
der beiden noch nicht erfahren, aber sie waren die Einzigen, obwohl schon
einige mehr im Haus gewesen waren, die schon seit längerem im Landhaus lebten
und sie hatten sich auch schon einige Male mit Beátrice unterhalten. Leider auf
Französisch (das schien in der Familie eine Art Amtssprache zu sein), weshalb
er nichts verstanden hatte. Ihm erschloss sich auch noch nicht so ganz wie er
mit einem Niederländer und einer Italienerin verwandt sein sollte, aber ihm war
hier ja noch einiges schleierhaft.

Beátrice hatte ihn deshalb
angewiesen sich "mal in die Familiengeschäfte einzuarbeiten" während
sie "einige Dinge klärt", was so viel bedeutete wie: Er erhielt jeden
Tag einen neuen Ordner mit Informationen über seine Familie, ihre Geschichte,
worauf sie Einfluss hatte, wie ihre Blutlinie durch die verschiedensten
Königshäuser verlief und welche historisch wichtigen Persönlichkeiten ihr
angehörten (denn, auch wenn das Haus im Hintergrund agierte,
war es manchmal erforderlich in Erscheinung zu treten). Doch
sobald er in der Bibliothek weitere Informationen wollte, wurde er von einem
Angestellten darauf hingewiesen, dass er "nicht befugt war eigenständig
die Archive einzusehen". Also beschränkten sich seine Tage auf das Studium
des jeweiligen Ordners in einem der
Kaminzimmer und anschließenden Spaziergängnen über
die umliegenden Felder, um das alles zu verarbeiten.

Nach einem Monat wusste er zwar
einiges, aber er hatte das Gefühl bei weitem nicht alles zu wissen. Doch Tante
Beátrice hatte offenbar beschlossen, dass seine
theoretische Vorarbeit jetzt vorerst abgeschlossen wäre. Denn eines Morgens lag
auf der Kommode in seinem Zimmer kein weiterer dicker Ordner mit unzähligen
Informationen sondern eine dünne blassbraun eingeschlagene Akte. Wie klischeehaft.
Die Akte enthielt Informationen zu Bankgeschäften, verwirrende Transaktionen
die offenbar quer um die Welt führten (nicht das er von simplen Bankgeschäften
etwas verstanden hätte, aber das war eindeutig ungewöhnlich), Berichte von
Finanzbehörden und Personenbeschreibungen von Leuten von denen er noch nie
gehört hatte. Außerdem befand sich in der Akte eine Notiz in eleganter,
geschwungener Handschrift, mitin blauer
Tinte: 

Genug Studiert, es wird Zeit
Erfahrungen zu sammeln. 12 Uhr, Eingangshalle. Sei pünktlich. -Beátrice

Unten auf der Notizkarte befand
sich ein Zeichen bestehend aus einem D, einem L und einem P in goldenen Lettern die übereinander lagen. Vermutlich eine Art
Logo von Beátrice. Wie dem auch sein sollte, um Punkt 12 saß er auf einem der
alten, englischen Ledersofas in der Eingangshalle und erwartete seine
Großtante. Eine halbe Stunde später erschien sie tatsächlich. Sie trug die
Haare präzise hochgesteckt und war dezent geschminkt. Sie hatte einen beigen
Kaschmirpullover an, der sich um ihre Schultern kunstvoll in Falten legte und
eine graue Stoffhose, dazu formelle braune Absatzschuhe. Schmuck trug sie
keinen, so als müsste sie ihren Wohlstand hier nicht zeigen. "Komm, Theo
wir sind spät dran", war alles was sie ihm entgegen warf. Sie lief
schnurrgerade weiter auf eine tiefbraune Eichentür zu, die ihr von einem
Angestellten geöffnet wurde. Als er sie im dahinterliegenden Gang endlich
eingeholt hatte sagte er: "Wir haben uns einen Monat  nicht gesehen.
Das letzte Mal hast du mich in der Eingangshalle stehen lassen und bist
verschwunden. Ein 'Hallo' wäre also
ganz nett gewesen." Sie blieb stehen, drehte sich um und fixierte ihn mit
ihren grauen Augen: "Ich bin auch nicht hier um Nettigkeiten
auszutauschen, aber bitte wenn es dir hilft: Hallo, Theo.
Und jetzt komm wir verschwenden Zeit." Damit drehte sie sich um und ging
weiter. Er wollte sie erst fragen wohin sie eigentlich gingen, aber
er wurde das Gefühl nicht los, dass Beátrice der Ansicht war, er hätte sie
jetzt genug Zeit gekostet, sodass er vermutlich ohnehin keine Antwort bekommen
hätte. Und in diesem Moment öffnete sie eine Tür, ähnlich der vorherigen, aus
braunem Eichenholz, an der rechten Seite des Ganges...

De La Pallée - reich, mächtig, unberechenbarWo Geschichten leben. Entdecke jetzt