Kapitel 2

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Nachdem er die Hälfte seiner verbliebenen Schatten platziert hatte, um ihm als Leuchtfeuer für den Rückweg zu dienen, machte er sich auf den Weg.
Glücklicherweise erreichte er kaum dreißig Minuten später ein kleines Dorf mit einem dementsprechend kleinen Friedhof. Der Totenacker war groß genug gewesen, um ihm die Richtung zu der Ansammlung von Häusern zu weisen. Aber zu klein, um eine befriedigende Anzahl an brauchbaren Schatten zu beherbergen, die er hätte an sich ketten können.
Es gab viele menschliche Seelen, die irgendetwas in ihrer Welt hielt. Sie taten sich schwer damit loszulassen oder hatten noch eine Rechnung offen. Interessant waren nur die von Hass, Neid, Enttäuschung verzerrten, die aktiven, die sich so unbedingt von ihren Gräbern lösen wollten. In diesem widerlichen Dorf lebten und starben glückliche Leute, dem Friedhof nach zu urteilen.
Unbemerkt schlich er weiter, an schnuckeligen einstöckigen Häusern vorbei, die durch die Blumen im Vorgarten, auf der Veranda und vor den Fenstern bunt und eigen wirkten. Bildchen verzierten die Fassaden, Tiere, Muster, Landschaften.
„Widerlich", murmelte er. „Widerlich, widerlich, widerlich ..."
Hinter seiner Stirn ballte sich ein Druck zusammen, wie Wolken vor einem Gewitter. Er blieb schließlich vor einem Haus etwas abseits stehen. Es war noch dunkel genug und er hatte sowieso keine Probleme, in Menschenhäuser einzudringen, egal wie geschwächt er war. Der Tag, an dem ihn ein Mensch ungewollt entdeckte, würde ein wahrlich düsterer Tag sein.


Die Luft im Haus hatte etwas Staubiges, Schweres an sich. Es herrschte absolute Stille, nur ab und an durchbrochen von dem Wispern von Decken oder dem Quietschen eines alten Bettes. Er selbst verursachte dank seiner Seelen kein einziges Geräusch.
An einer halb geschlossenen Tür hielt er unwillkürlich inne, sah ein Bett in dem ein älterer Mann seine Frau, ging man von den Eheringen aus, im Arm hielt. Friedlich und absolut glücklich lagen sie da. Auf dem Nachttisch stand ein Foto, schwarzweiß und vergilbt. Zwei Menschen, die sich anstrahlten. Daneben ein neueres Bild, dieselben Menschen, nur älter, gemeinsam mit ihren Kindern, vermutete er.
„Mau!"
Er stolperte rückwärts weg von der Tür. Die Katze musterte ihn zwei Sekunden, dann verlor sie das Interesse und tapste auf Samtpfoten ins Zimmer, sprang aufs Bett und rollte sich am Fußende zusammen.
Milan ...
Ein Tropfen landete auf dem Holzboden. Seine Fingernägel hatten sich in seine Handballen gebohrt wie Dolche.
Angewidert wandte er sich ab und ging weiter, auf der Suche nach Kleidung. Obwohl keine Kleidung der Welt etwas an dem Offensichtlichen ändern konnte.
Wenn es dunkel war, es genug zwielichtige Ecken gab, war alles kein Problem. Sich unbemerkt unter Menschen zu bewegen, am helllichten Tag, war etwas gänzlich anderes. Der Engel würde schon sehen ...


Um sechs stand er wieder auf der Lichtung im Wald. Er würde sich nicht blamieren, indem er eine sinnlose Flucht versuchte. Er würde nicht leichtsinnig sein, nein, er würde würdevoll abwarten. Er würde ihm brav folgen. Noch.

Engel kam aus dem Unterholz geschritten. In grauen Jeans und einem grünen Hoodie. Über seine linke Schulter fiel ein geflochtener Zopf, der von einem orangeblauen breiten Gummi zusammengehalten wurde. Er hatte sich die Kapuze tief ins Gesicht gezogen und trug zusätzlich eine große Sonnenbrille. Ein hoffnungsloser Versuch, man sah trotzdem, wie ungewöhnlich er aussah.
Etwas anderes als seine abgerissene Jeans, der weite Mantel und der breitkrempige Hut. Alles in Schwarz, verstand sich, passend zu seinen Nägeln und Boots.
Das war wirklich lächerlich. Mit gehobenen Brauen sah er dem Engel entgegen.

„Wir werden auffallen." Der Geflügelte sprach es aus, wie die Tatsache, die es war.

Zustimmend brummte er.

Volle Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Erneut. Offensichtlich war er an den glücklichsten Engel überhaupt geraten.
Seine Laune sank dagegen stetig.

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