Kapitel 9

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Ich traue mich auf Augenhöhe mit ihm und wage einen Schritt in seine Richtung. Seine Haltung spricht mir grade nicht wirklich zu, weshalb ich kurz daran denke doch die Klappe zu halten. Aber grade vor ihm und seinem Antlitz darf ich mich nicht einschüchtern lassen. Schließlich stehe ich tiefst in seiner Schuld.
"Ich wollte mich bei dir bedanken.", spucke ich raus und spüre schon hinter mir das stolze grinsen meiner Freundin. Seine Gruppe zieht ein ebenso überraschtes Gesicht, wie er, aber sagen nichts. Er gibt ein knappes Nicken von sich und presst lediglich ein: "Schon gut." hervor. Etwas entsetzt vergrabe ich meine Hände in meine Jackentaschen und wende mich Raya zu.
"Können wir dann?", murmle ich und flehe sie mit meinen Augen an.
"Wenn ihr meint. Ich begleite euch zu Tür.", meldet sich das Mädchen zu Wort und steht ebenfalls auf.
"Wir sehen uns morgen in Sport.", sagt Nas, dem ich als Antwort nickend zugrinse.
Kaum treten wir aus dem Haus, kann ich keines meiner Emotionen zuordnen.
"War doch halb so wild.", versucht sie mich aufzumuntern. Ich seufze.
"Das war mir verdammt unangenehm. Du hast doch gesehen, wie er geschaut hat. Als würde er mir jeden Moment das Genick brechen wollen."
"Er hatte wahrscheinlich nur einen schlechten Tag.", muntert sie mich auf. Ich ignoriere diese Bemerkung und lasse mir sämtliche, gut gelaufene, Situationen durch den Kopf gehen. Hauptsache nichts negatives. 
"Was wäre denn deiner Meinung nach ein gelungenes Dialog mit ihm?", stellt sie mir die Frage entgegen. Ich streiche mir nachdenklich über das Kinn. Alles wäre mir wahrscheinlich lieber, als das, was grade geschehen ist.
"Er war kaum begeistert, als er uns vorhin gesehen hat. Ein Lächeln von ihm könnte nicht schaden.", kritisiere ich.
"Joce, das ist bestimmt nur seine Art. Du kennst doch solche Jungs, die sind nie freundlich." Ich muss ihr ausnahmsweise mal recht geben. Der nette Nachbar von nebenan ist er definitv nicht, das haben wir deutlich zu sehen bekommen. Mit seinen schwarzen Klamotten, seiner zerrissenen Jeans und den DocMartens ist er das völlige Gegenteil eines Sunny Boys. Sogar seine Aura lässt Leuten den Rücken eiskalt runterlaufen. Kann ich es ihm denn überhaupt Recht machen oder füge ich mir damit nur selber Schmerz zu? Ich werde mich die nächsten Tage sowieso zurückhalten, als ob ich einen weiteren Schritt in seine Nähe Wagen könnte. Und wenn, wäre es wahrscheinlich nicht großartig von Vorteil.

°•¤°Eine Woche später°•¤°
Mir kommt es wie eine ganze Ewigkeit vor ihn nicht gesehen zu haben. Sogar im Sportunterricht habe ich ihn kaum zu Gesicht bekommen. Entweder wurden wir in verschiedenen Gruppen aufgeteilt oder er war gar nicht erst da. Mir kam alles so merkwürdig und bedrückend vor, als wäre die Schule nicht mehr das, was es mal war. Obwohl es völliger Schwachsinn ist, denn alles ist bei altem geblieben. Der selbe Tagesablauf, der selbe Stundenplan und die selben Leute, nichts neues. Luie, Marie, Raya und ich laufen im Gang an diversen Schülern vorbei. Wir treffen, wie üblich, auf Paare, die auffälliger nicht sein könnten und erlauben uns unangemessene Scherze, die ins den Tag versüßen. Laut Stundenplan steht der Biologie Unterricht bevor, was zu meinen Lieblingsfächern zählt. Und mit den drei Mädels ist das Fach sogar viel amüsanter.
Lachend stehen wir vor dem Klassenraum und berichten uns gegenseitig über den neuesten Gossip auf dem Campus.
"Die süße neue Austauschschülerin Oana  Gonsales ist nun offiziell Single und ihr wisst, was das heißt.", reibt sich Luie verschwörerisch die Hände. Ich schüttele grinsend den Kopf.
"Krall sie dir, bevor es jemand anderes tut.", füge ich hinzu und beobachte ihn amüsiert.
Luie ist unser hoffnungsloser Romantiker und eine Nummer eins, was Flirten angeht. Wenn jemand einen Rat braucht, dann findet man den erfolgreich bei ihm.
Marie tippt ihn sanft an und geht einen Schritt nach rechts. Er schaut verwirrt an ihr vorbei, ist dann aber wie vom Blitz getroffen.
"Gibt mir nur eine Sekunde.", gibt er vor und zieht an uns vorbei. Kurze Zeit später taucht er mit der neuer Austauschschülerin auf und lächelt stolz. Seinem Charme kann wirklich niemand widerstehen, nicht einmal eine neue Schülerin. Er nutzt die Situation aus, um mit ihr in ein Gespräch zu kommen, was auch tatsächlich funktioniert. Beide sind in eine Unterhaltung verwickelt und machen keinen Eindruck diese zu lösen.
Ich brauche ihm kein Glück wünschen, der Junge hat etwas anziehendes an sich, was sowohl Mädchen, als auch Jungs, wie ein Magnet anlockt. Das ist kein Glück mehr, sondern ein Segen, während ich gefühlt nur den kürzeren ziehe. Entweder laufe ich blind an meinem Glück vorbei oder akzeptiere es nicht, weil irgendwo der Haken sein muss. Komische Denkweise, ich weiß. Und das auch noch als optimist macht die Sache noch delikater.

Die Glocke läutet, alle Schüler laufen in ihre zugehörigen Klassen, außer unsere. Der Lehrer ist noch nicht hier, was uns ungeduldig werden lässt.
Ein weiterer Schüler kommt in den Gang gelaufen und bleibt an der Tür stehen.
"Wir haben im Filmraum.", winkt er uns zu und läuft wieder weg. Wir schlendern ihm hinterher und kommen im richtigen Raum an. Alle sitzen auf den guten Plätzen in den vorderen Reihen, weshalb uns die letzte Reihe übrig bleibt. Wir setzen uns an den Tisch und der Lehrer spielt die Dokumentation ab. Unauffällig krame ich im Rucksack herum und finde das kleine schwarze Päckchen. Es ist ein Schlüsselanhänger in Form einer Machete. Luie meinte, dass sie als kleines Dankeschön perfekt geeignet wäre. Auch ich war der Überzeugung, da ich Rat bei Ty's Freundin gesucht habe. Letzten Endes zählt nur, ob es ihm genauso gut gefällt.
"Nas.", flüstere ich zu ihm rüber und ergattert so seine Aufmerksamkeit. Er dreht sich zu mir um und zieht fragend die Augenbrauen zusammen.
"Kannst du das Ty geben?", halte ich ihm das Päckchen entgegen, das er annimmt und in seinen Ranzen verstaut.
"Hat's n Grund?", fragt er leise und lehnt sich zu mir rüber.
"Das ist ein kleines Dankeschön. Er wird schon wissen, was gemeint ist.", erkläre ich und widme mich dem Film zu. Auch meine Freunde schauen interessiert zu und scheinen nichts von dem Gespräch mitbekommen zu haben.

Untouched | GestopptWo Geschichten leben. Entdecke jetzt