Buchstaben
Eigentlich war es ein Tag wie jeder andere, nur eben im Dezember. Noch fiel kein Schnee und die Kinder in der Stadt liefen jeden Morgen zum Fenster, um zu sehen, ob die Welt nun endlich weiß ist. Louis hat das schon lange aufgegeben. Mit Glück schneit es im Januar vielleicht, aber im Dezember wird das wohl nichts mehr.
Er mag es nicht zugeben, aber er ist einer dieser Menschen, die es lieben würden, weiße Weihnacht zu haben. Seine Geschwister sowieso; vor allem die Kleinsten. In allen Kinderserien scheint es an Weihnachten und daher ist es nicht verwunderlich, dass er, als der Älteste, dieses Jahr wieder oft gefragt wurde, wann sie endlich ihren ersten Schneemann bauen können. Louis hat natürlich keine Antwort darauf. Wie sollte er auch? Er kann nicht zaubern und mal eben das Wetter verändern.
Es ist einen Tag vor Weihnachten und er ist auf dem Weg in die Stadt. Gestern hat er mit seiner Mum und seinen Geschwistern den Weihnachtsbaum aufgestellt. Sie sind tatsächlich sehr spät dran, aber bisher war einfach keine Zeit dafür, das Haus und die Wohnung zu dekorieren. Das ist gestern jedoch so gut wie fertig geworden. Leider ist Phoebe, eine von seinen Schwestern, über eine Kiste gestolpert, als sie die Treppe herunter gerannt ist. Ihr ist nichts passiert, aber die Kiste ist die Kellertreppe heruntergefallen und dadurch haben nur zwei der vielen Christbaumkugeln überlegt.
Louis hat sich heute morgen also auf den Weg gemacht um Neue zu kaufen. Was wäre Weihnachten denn auch ohne einen vernünftig geschmückten Tannenbaum? Nein, das geht doch so nicht. Er ist früh aufgestanden, was ganz und gar nicht seiner Natur entspricht, aber die Stadt wird proppenvoll sein und er mag Menschenmassen noch weniger als seinen Wecker.
Zielstrebig steuert er einen Laden an, bei dem er jetzt schon sicher ist, dass er schönen neuen Weihnachtsschmuck bekommt. Er läuft direkt nach hinten durch, wo einige Kisten mit Kugeln stehen. Er sieht sich die Auswahl an und schlängelt sich an den Menschen vorbei, die offenbar den gleichen Plan haben. Louis packt zwei Pakete roter Kugeln in den Wagen und geht weiter.
Im Hintergrund laufen bekannte Weihnachtslieder und er fängt ungewollt an, mitzusummen, auch wenn er gerade wohl der einzige ist. Es ist hektisch und voll und die Menschen drängeln sich aneinander vorbei, gehetzt und gestresst. Louis versteht es nicht. Weihnachten sollte etwas tolles sein, und kein Stressfaktor.
Dann sieht er auf dem oberen Regal eine Auswahl an einzelnen Kugeln und überlegt nicht lange. Es sind rote, glitzernde Buchstaben auf silbernem Hintergrund. Er möchte die Anfangsbuchstaben seiner Geschwister kaufen. Er stellt sich auf Zehenspitzen, kommt aber trotzdem nicht ran. Genervt seufzt er und sieht sich um, ob es irgendwo einen kleinen Tritt oder eine Leiter gibt. Fehlanzeige. Ihn nervt es nicht oft, dass er etwas kleiner ist, das der durchschnittliche, erwachsene Mann, aber in Momenten wie diesen, wünscht er sich schon, zehn Zentimeter größer sein zu können. Das würde so einiges erleichtern.
Rücksichtslos rempelt ihn eine Frau mit Kinderwagen an und geht weiter, ohne zu reagieren. Er seufzt und geht zu einem anderen Buchstaben. Er streckt sich so weit es geht nach oben, kommt aber mit den Fingerspitzen trotzdem nur gerade so an die Verpackung. „Ach scheiße." murmelt er und sieht nach oben. Jetzt möchte er diese Kugeln auch haben, er kann doch nicht wirklich zu kein dafür sein, diese Christbaumkugeln vom Regal zu fischen.
„Kann man Ihnen helfen?" fragt plötzlich eine tiefe, raue, aber angenehme Stimme. Louis sieht zur Seite und blickt in strahlend grüne Augen. Ein Mann, etwa in seinem Alter steht ihm gegenüber und sieht ihn fragend an. „Äh.. gerne." lächelt Louis dann. Der Kerl ist um einiges größer als Louis und er sieht ihn vielleicht ein paar Sekunden länger an, als notwendig. „Welche brauchen Sie denn?" fragt er und sieht sich die Kugeln an.
„Ein J, L, F, P, D, E, und noch ein D." Überrascht sieht der Mann ihn an und Louis zuckt schmunzelt mit einer Schulter. „Große Familie." meint er dann und Harry nickt. „Und Sie heißen?" - „Louis." antwortet er und irritiert sieht der Mann ihn an, als er die ersten ihm die ersten beiden Kugeln gibt, sagt aber nichts. „Und Sie?" fragt Louis dann und ist auf einmal etwas unsicherer. „Harry." antwortet er und gibt ihm noch eine Kugel.
Louis sieht in seinen Wagen. „Keine Weihnachtsartikel?" - „Nein, ist nicht so mein Ding." - „Was? Wieso das denn nicht?" fragt er und schüttelt leicht den Kopf. Harry lacht und zuckt mit den Schultern. „Ich bin erst vor kurzem nach Doncaster gezogen, alleine Weihnachten feiern, macht dann doch nicht so viel Spaß." - „Wieso feiern Sie alleine?" fragt Louis verwundert und sieht ihn irritiert an. „Ich kenne hier noch niemanden." erwidert Harry nur. „Die Firma in der ich arbeite hat ihren Standort hierher verlegt und daher bin ich hier." erzählt er.
Louis schüttelt den Kopf. „Das ist natürlich blöd." Dann mustert er Harry noch einmal. „Ähm.. Sie können mit uns feiern? Also meiner Familie und mir." schlägt er vor, noch bevor er darüber nachdenken kann. Harry blickt ihn überrascht an. „Sie kennen mich doch gar nicht." - „Du heißt Harry und bist freundlich." erwidert Louis nur. „Und du stehst nicht auf Weihnachtsdekor." fügt er grinsend hinzu und Harry nickt amüsiert.
„Dann kann ich wohl nicht ablehnen, oder?" entgegnet er und gibt Louis die letzten beiden Kugeln. „Wirklich?" fragt Louis überrascht, aber erfreut. „Naja, wieso denn nicht? Ähm.." - „Doch!" bekräftigt Louis sofort und sieht sein Handy aus der Tasche. „Hier, tipp' deine Nummer ein." fordert er den Mann auf und freut sich innerlich gerade unfassbar sehr.
Harry kommt der Bitte lächelnd nach und kurz darauf hat auch er die Nummer des kleineren Mannes. Sie reden noch miteinander, bis sie aus dem Laden sind. Harry erfährt, dass Louis hier in der Stadt kommt. Er hat zwar in London studiert, aber trotzdem hat es ihn nach Doncaster zurück gezogen. Harry hingegen kommt aus einem kleinen Dorf und für ihn ist das hier schon eine Großstadt. Das Start-Up in dem er arbeitet, ist vor zwei Wochen hierher umgezogen und Harry mit.
Sein Boss ist bisher der einzige, den er hier kennt, aber dieser verbringt die Feiertage mit seiner Frau in London. Es ist sein Weihnachtsgeschenk an sie, da ihre Familie dort wohnt.
Harry ist sehr überrascht über Louis' Angebot, aber als dieser ihm an Weihnachten dann wirklich die Adresse und die Uhrzeit schreibt, kann Harry es nicht so ganz glauben. Er kennt ihn eigentlich nicht und trotzdem lädt er ihn einfach ein. Harry ist noch nie so ein offener Mensch begegnet.
Er nimmt die Einladung gerne an und so lernt er auf einen Schlag Louis' große Familie kennen.
„Hier, nur eine Kleinigkeit." meint Harry dann und gibt Harry das kleine Paket. Er hat außerdem eine Flasche Wein mitgebracht. „Eigentlich werden Geschenke erst morgen geöffnet." meint Louis überrascht, aber Harry schüttelt den Kopf. „Mach es jetzt auf." antwortet er und Louis grinst, als er sieht, was darin ist.
Es ist eine der Kugeln mit Buchstaben darauf. Ein L. Genau der Buchstabe. Den er vergessen hat, weil er nicht an sich selbst gedacht hat. Er hängt ihn zu den anderen und blickt Harry einen Moment an. Der Abend zieht ein und irgendwann kann weder Louis, noch Harry glauben, dass sie sich wirklich erst vierundzwanzig Stunden kennen.
Die Zeit vergeht und irgendwann ist Louis sogar fast froh darüber, nicht groß genug gewesen zu sein, um die Kugeln alleine vom Regal zu holen; erst recht, als er ein Jahr spät eine weitere mit dem Buchstaben H an den Baum hängt. (Zugegeben, ein Mitarbeiter, hat sie ihm herunter gereicht.) Harry sieht die Kugel an, dreht sich dann zu Louis und küsst ihn. Und vielleicht liegt in diesem Jahr sogar Schnee auf den Straßen von Doncaster und hüllt die ganze Stadt und das junge Paar in eine angenehme Ruhe und in eine romantische Stille der weißen Weihnacht.
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Adventskalender 2019
FanficKleine Storys, von denen ich hoffe, dass sie euch gefallen werden ❄