21. Türchen

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Weiße Weihnacht

Wieder schaue ich auf die Uhr. Wo bleibt er? Louis sollte schon vor einer guten Stunde hier sein. Die Teelichter sind die ganze Zeit schon an und viel Wachs ist nicht mehr übrig. Das Essen ist kalt, aber ich kann es ja wieder warm machen. Erst dachte ich, dass Louis einfach nur die Bahn verpasst hätte, aber jetzt werde ich skeptisch.

Er kommt über die Feiertage nach Holmes Chapel und ich freue mich seit Wochen darauf. Gestern habe ich schon alles vorbereitet. Er wohnt eigentlich in Doncaster, weswegen wir uns nicht so oft sehen, wie wir gerne würden, aber meistens fährt einer von uns übers Wochenende in die jeweils andere Stadt. Die letzten drei Wochen hat das aber nicht geklappt, weswegen ich mich umso mehr freue, ihn endlich wiederzusehen.

Theoretisch jedenfalls. Ich nehme mir mein Handy und versuche noch einmal, Louis anzurufen, aber sein Handy ist immer noch aus. Die Nachrichten gehen nicht durch und ich werde direkt zur Mailbox weitergeleitet. Das gibt es doch nicht. Selbst wenn er den Zug verpasst hat und den nächsten genommen hätte, müsste er langsam aber sicher hier sein. Sein Auto steht in der Werkstatt, das ist auch der Grund, dass wir fast den ganzen Dezember nur telefonieren konnten. Ich habe keins und Zugtickets sind einfach sehr teuer.

Eigentlich hatte er die Hoffnung, dass es bis heute fertig sein würde, aber er hat mir heute Morgen geschrieben, dass er auf dem Weg zum Hauptbahnhof ist. Wieder sehe ich auf die Uhr, dann schaue ich aus dem Küchenfenster. Die Straßen sind schneebedeckt und auf den Scheiben der Autos liegt Eis. Weiße Weihnacht, aber mein Verlobter ist nicht hier. Schöne Scheiße.

Es wird wirklich langsam Zeit, dass wir zusammenziehen. Ich suche aktuell noch Arbeit in Doncaster, aber solange ich da nichts festes angeboten bekomme, behalte ich meinen Job hier in Holmes Chapel. Für uns beide ist klar, dass Louis nicht hierher zieht. Er liebt seine Arbeit dort und außerdem ist es eher unwahrscheinlich, dass er in der Gegend hier etwas findet.

Dicke Flocken fallen vom Himmel uns Sammeln sich auf der Fensterbank. Ich bin nicht unbedingt ein Fan vom Winter, von den Filmeabenden mit Louis mal abgesehen; wenn wir zusammen auf dem Sofa kuscheln, eine dicke Decke über uns liegt und irgendeinen romantischen Weihnachtsfilm schauen, den ich sehen möchte. Fast alle Spuren der Autos sind schon wieder bedeckt und es könnte eigentlich der perfekte, romantische Abend werden; alleine ist das aber ein wenig schwierig.

Kopfschüttelnd gehe ich weg zum Fenster, setze mich aufs Sofa und schalte den Fernseher an. Prompt erscheinen die Nachrichten, die von einem unerwartet hohen Schneefall berichten. Teilweise wurde der Fernverkehr im Norden Englands bereits eingestellt, da die Gleise zugeschneit sind. Ich seufze und hoffe, dass Louis nicht irgendwo auf der Strecke in einem Zug sitzt und nicht wegkommt. Das würde aber erklären, warum er noch nicht hier ist. Heute Nacht soll es weiter schneien und es ist jetzt schon klar, dass die Kinder Schneefrei haben werden. Die Busse werden wohl kaum durch diese weißen Massen kommen können.

Zumindest sitzt Louis im Warmen. Ich hoffe, er hat genug Verpflegung eingepackt, aber eigentlich gibt es ja auch immer einen Speisewagen, wo er sich etwas holen könnte, wenn es noch länger dauern wird, bis die Gleise wieder frei sind. Die Aufräumarbeiten haben schon begonnen, aber es ist wohl eher so, dass versucht wird, die Schneedecke nicht noch höher werden zu lassen. Ich gehe in die Küche und mache das Essen warm. Es sieht ganz so aus, dass Louis noch eine Weile auf der Strecke feststeckt und ich habe inzwischen wirklich Hunger.

Ein paar Minuten später sitze ich alleine auf dem Sofa, in der Decke gekuschelt und schaue irgendeinen Film, von dem ich aber den Anfang verpasst habe. Wirklich schwierig, der Handlung zu folgen, ist es dennoch nicht, denn wenn man mal ehrlich ist, sind die meisten dieser kitschigen Filme ja doch irgendwie immer gleich aufgebaut.

Der Schnee fällt unaufhörlich. Weiße Weihnachten sind ja schön und gut, aber so extrem muss es dann ja doch nicht sein. Es reicht doch, wenn es drei oder vier Zentimeter sind. Laut Wetterbericht soll die Schneedecke morgen in den höheren Lagen bis zu zwei Metern hoch sein. Darauf habe ich ja Lust. Selbst, wenn es hier nur einen Meter sein wird, ist es doch sehr viel.

Mein Teller ist halbleer, als es plötzlich an der Tür klingelt. Verwundert schlage ich die Decke zur Seite und stehe auf. Wer will um diese Uhrzeit denn noch etwas von mir? „Hallo?" frage ich durch die Gegensprechanlage. „Mach auf. Mir ist kalt." höre ich Louis' zitternde Stimme und drücke sofort auf den grünen Knopf. Mit großen Augen sehe ich meinen mit Schnee bedeckten Freund an, der sich die Treppen hoch schleppt. „Oh Gott, komm rein!"

Ich ziehe ihn schon fast in die warme Wohnung, als mir die eisige Luft entgegen schläft. Er zittert wie Espenlaub, seine Nase ist rot und seine Augen tränen von der Kälte und dem Wind. „Hallo Babe." schlottert er und ich mache mich daran, ihn aus den Klamotten raus zu bekommen. Seine Finger sind rot, die dünnen Handschuhe haben kaum geholfen. Ich lasse seine Sachen liegen, gehe ins Bad und lasse warmes Wasser in die Badewanne laufen.

„Ich dachte, der Zug steckt fest." sage ich und hänge die Klamotten an die Heizung im Wohnzimmer. Er trägt noch eine nasse Jeans und den Pullover. „Komm." sage ich dann und nehme seine eisige Hand. Wir gehen ins Bad und ich ziehe ihn weiter aus. Er hat blaue Lippen und ich frage mich, wie lang er wohl da draußen herumgelaufen sind.

Louis lässt mich machen und ich setze ihn in die Badewanne. Er seufzt auf und ich ziehe mich ebenfalls aus. Das Wasser geht ihm gerade bis zur Hüfte. Immer wieder stelle ich es etwas heißer, ich wollte nicht, dass er sich verbrennt, wenn ich die Temperatur direkt so hoch stelle. Er entspannt sich etwas und rutscht langsam zwischen meine Beine. Bevor er sich umdreht, um sich mit dem Rücken an mich zu lehnen, küsst er mich liebevoll und ich ziehe ihn enger zu mir. Er ist immer noch kälter, als normalerweise. Er drückt seinen Rücken an mich und ich erschaudere kurz, als seine kalte Haut meine berührt.

Louis hingegen seufzt auf und schließt die Augen. „Wie bist du hergekommen?" frage ich ihn besorgt und streiche den letzten Schnee aus seinen Haaren. „Ich wollte im Wimslow umsteigen, aber da hieß es, es fährt nichts mehr wegen des Schnees. Ich wollte gegenüber zu dieser Auskunftsstelle der Bahn, da hat mich eine Frau gefragt, ob sie mir helfen kann. Mein Akku war schon leer und ich habe wohl sehr verzweifelt ausgesehen. Sie war wirklich nett, sie musste nach Allostock und hat mich bis dahin mitgenommen." erzählt er mir und entgeistert sehe ich ihn an.

„Du bist per Anhalter gefahren?" frage ich ihn und er nickt. „Schon. Im Radio habe ich dann gehört, das morgen wohl auch keine Züge mehr fahren, also war es die richtige Entscheidung." antwortet er mir. „Und von Allostock?" frage ich dann zögerlich und er dreht sich zu mir um und ich schalte das Wasser aus. Es geht bis kurz unter den Rand der Badewanne und ist sehr warm, aber noch nicht unangenehm.

„Gelaufen." antwortet er mir und ich kann kaum glauben, was ich da höre. „Was? Bist du wahnsinnig? Das sind doch drei oder vier Meilen!" Er seufzt und nickt. „Jup. Und ich habe mich verlaufen." Auch das noch. „Wie lange warst du draußen?" erwidere ich leise und er zuckt mit den Schultern. „So etwa zwei Stunden? Aber dann habe ich das Schild nach Holmes Chapel gesehen." - „Oh Gott, Louis..." - „Was denn?" - „Ich bin nur froh, dass du es noch hergeschafft hast. Du kannst doch nicht ohne Handy, ohne Karte und ohne dich hier auszukennen, bei so einem Schneetreiben draußen im Dunkeln herumlaufen." Er lächelt und seufzt. „Tut mir leid, Haz. Ich dachte, ich schaffe es schneller. Als ich in Allostock angekommen bin, dachte ich halt, jetzt kann ich den letzten Rest auch laufen, so weit ist es ja nicht." - „Ja, eigentlich, im Sommer, mit Navi." entgegne ich und er lacht.

„Jetzt übertreibst du aber." - „Du warst ein lebender Eiszapfen!" widerspreche ich und er lächelt. „Ich liebe dich, Harry." - „Oh, ich dich auch." antworte ich und Louis küsst mich erneut. Er ist manchmal wirklich irre, aber ich bin trotzdem froh, dass er jetzt hier ist. Ich mache das Essen erneut warm und wir kuscheln und in die dicke Decke auf dem Sofa, kuscheln, aber Louis muss mir schwören, das nächste Mal in einem Hotel zu übernachten und nicht in der Nacht im Schnee über die Felder zu laufen, in der Hoffnung, ein Ortsschild zu finden. 

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