Die molekulare Struktur von Ketchup

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Kapitel 15 Die molekulare Struktur von Ketchup

Als ich aufwache, ist es bereits dunkel draußen. Ich habe geträumt, dass sich Sharis Vater in den indischen Gott Ganesha verwandelt hat. Mit Turban und dem bösen Blick, den er mir immer zu wirft. Dann hat er mich verspeist und genauso fühle ich mich. Zerkaut und wieder ausgespuckt. Langsam setze ich mich auf und schaue einen Moment aus dem Fenster und lausche in meine Umgebung hinein. Es ist still im Haus.

Ich weiß nicht, was Raphael meinen Eltern erzählt hat, aber sie sind kein einziges Mal in mein Zimmer gekommen, um mich mit Vorwürfen zu nerven oder mit anderen elterntypischen Dingen. Nicht einmal nach dem Auto haben sie gefragt und das, obwohl es noch immer an der Schule steht. Die Schmerzen in meinem Kopf haben nachgelassen und ich bewege ihn probeweise langsam im Kreis, sodass mein Nacken leise knackt.

Ich ziehe mir eigene Klamotten an und gehe runter in die Küche. Richtigen Hunger habe ich keinen, aber ich weiß, dass ich eine Kleinigkeit zu mir nehmen sollte.

Ich belege mir ein Brot mit Wurst, Käse, Gurken und haue mir eine Ladung Ketchup drauf. Mein Hamburger für Arme. Gut, man kann auch Sandwich sagen. Nach einem langen Kampf mit der Zähflüssigkeit der roten Soße in der Flasche, lehne ich mich zufrieden an die Arbeitsfläche. Beim Abbeißen läuft mir der Ketchup ungehindert über die Finger und ich lecke sie genüsslich ab. Ich tropfe Ketchup auf den Boden, doch das ist mir im Moment reichlich egal. Nun habe ich doch Hunger und vor allem Appetit.

Ich schnappe mir einen Teller, belege eine weitere Scheibe mit allem und nehme Alles mit ins Wohnzimmer, wo ich den Fernseher anschalte und mich eine Weile berieseln lasse. Es läuft bereits das Nachtprogramm und während im Hintergrund die Nummern verschiedener Erotik-Hotlines durchlaufen, denke ich an den kuriosen Moment in der Umkleidekabine zurück. Noch immer spüre ich das Kribbeln. Die Aufregung und die Ungewissheit. Raphaels warmer Körper, der sich dicht an meinen presste. Sein heißer Atem in meinem Nacken und ich hätte schwören können, dass ich mehr gespürt habe, als ich hätte spüren dürfen. Habe ich es mir nur eingebildet? In Gedanken versunken bemerke ich nicht, wie mir pausenlos Ketchup über die Finger und in die Hand läuft.

Warum ist er mir so nah gekommen? Es war sicher nur die Reaktion auf den Schreck, dass er mich stürzen sah. Natürlich hatte Raphael mit allem Recht. Es war unverantwortlich und dämlich. Allein der Verlauf des bisherigen Tages hätte mir eine Warnung sein sollen, aber ich habe gar nicht nachgedacht. Es hätte Schlimmeres passieren können. Dann würde ich jetzt nicht auf der Couch, sondern auf der Intensivstation sitzen und sabbern wie ein Hund. Nichts weiter als Galgenhumor. Ich versuche, damit zu überdecken, dass auch ich mich erschrocken habe und dankbar bin, dass nicht mehr passiert ist. Ich lasse den Teller mit dem Rest meines zweiten Sandwichs auf meinem Bauch stehen und lehne mich zurück.

All das erklärt dennoch Raphaels Reaktion nicht. Seine übertriebene Sorge. Seine Worte. Weder die Situation in der Dusche noch die andere in der Umkleide erklärt sich mir dadurch. Mit meinem inneren Wahnsinn könnte ich das als Anmache deklarieren. In meinem Magen beginnt es zu kribbeln. Allerdings hat Raphael eine Freundin und ist definitiv nicht schwul.

„Anmache", murmele ich. Allein der Gedanke daran lässt mich ungläubig Lachen. Ich fahre mir mit der Hand durch die Haare und schmiere mir unabsichtlich den Ketchup hinein.

„Mist." Angewidert sehe ich auf meine eingesauten Hände. Ich lecke mir etwas des Tomatenbreis von den Fingern und komme nicht umher, weiter zu kichern.

„Anmache", wiederhole ich und wische mir den Handballen entlang. Ich weiß nicht, was ich daran eigentlich witzig finde. Wahrscheinlich die Absurdität, doch da ist der Wunsch, dass ich es mir nicht eingebildet habe. Und er ist stark.

Doors of my Mind - Der Freund meiner SchwesterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt