Kapitel 22 Finnisch für Anfänger
Die komplette Woche rauscht davon, ohne dass ich Raphael ein einziges Mal zu Gesicht bekomme. Es findet kein Training statt und er hat auch keinen Grund, bei uns zuhause aufzutauchen. In einer Pause läuft mir Danny über den Weg und ich frage ihn nach dem Training. Er erklärt mir, dass Raphael als Dank für die guten Leistungen beim Turnier allen eine komplette Woche Ruhe gönnt. Für die Sportler wohl verdient, doch ich habe nicht damit gerechnet. Raphael hat nichts dergleichen erzählt. Für ihn passt das natürlich perfekt und wahrscheinlich hat er mir auch deshalb nichts gesagt. So kann er mir herrlich aus dem Weg gehen. Ich fühle mich, als hätte man mir neben dem Internet nun auch die gute Laune abgedreht. Einmal bin ich kurz davor, meine Mutter nach seiner Telefonnummer zu fragen. Nur die Tatsache, dass sie mir ein Eis in die Hand drückt, verhindert es.
Allerdings bin ich am selben Abend kurz davor, mir die Autoschlüssel zu greifen und wie ein Gewitter vor seiner Wohnung aufzutauchen. Mehrmals schleiche ich unten rum und lege sie schweren Herzens wieder in die Kommode zurück. Ich bin keiner dieser Verrückten und Bedrängen ist keine Lösung. Auch wenn mir diese unerbittliche Ungewissheit schier Löcher in den Leib frisst.
Am späten Freitagnachmittag kommt meine Schwester zurück von ihrer Klassenfahrt in Wien. Es gibt Kaffee und Kuchen. Ich lausche nur mit halbem Ohr den Ausführungen über die schöne Stadt und den Kleinmädchenproblemen. Mayas plüschige Schöngeschichten interessierten mich wenig. Während meiner Klassenfahrten haben wir ständig nur getrunken und Knutschereien zur olympischen Disziplin erklärt. Ich revidiere den Gedanken, denn ich habe lediglich getrunken und niemanden das Gesicht abgeschleckt. Trotzdem war alles aufregender als das, was Maya hier zum Besten gibt.
„Wien ist eine wirklich zauberhafte Stadt. Es war so toll", schwärmt sie und ich pieke gelangweilt ein Stück vom Kuchen ab. Nusskuchen mit Frischkäsecreme. Sehr lecker, aber mir fehlt jeglicher Appetit. Es klingelt und ich fahre erschrocken zusammen, während Maya freudig quietscht. Raphael. Auch ich sehe ihn das erste Mal wieder nach unserem gemeinsamen Abend. Maya rennt zur Tür und fällt ihm sofort um den Hals, drückt ihn fest, während es mir den Hals zu schnürt.
Raphael meidet meinen Blick. Doch ich starre ihn herausfordernd an. Nach guter Schwiegersohnmanier grüßt er meine Eltern, lehnt freundlich ein Stück Kuchen ab und wird von Maya die Treppe nach oben gezogen. Ich schließe die Augen und seufze leise in mich hinein.
„Sie haben sich sicher viel zu erzählen", sagt meine Mutter und sieht den beiden nach.
„Uhuhuu...", kommentiere ich unaufgeregt.
„Mark!", mahnt sie.
„Warum? Raphael war schon mal in Wien und er weiß, wie alte Gebäude aussehen und wie seltsam die österreichische Sprache klingt." Alle Klassen unserer Schule fahren nach Wien. Alle sind in derselben Unterkunft untergebracht und alle sehen sich dieselben Sachen an.
„Du verhältst dich unfair und ich meine etwas anderes."
„Ach und was? Meinst du, Raphael wird auch sooo uuunfassbar entsetzt sein, dass sie ein ganzes Stück Sachertorte allein gegessen hat. Uuhuhuh...", ahme ich Mayas Erzählung nach und verdrehe die Augen. Nun schreitet auch mein Vater ein.
„Herrje, Mark, muss das sein?" Ja!
„Jeder findet eben andere Dinge erwähnenswert und ich meinte seine Entscheidung über das Stipendium für die Universität in Kalifornien." Stipendium? Uni? Kalifornien? Wie bitte? Ich habe gerade das Gefühl, dass mir die Gesichtszüge eingleisen.
„Ein Stipendium für eine Uni in Kalifornien?", wiederhole ich ungläubig.
„Ja. Eine tolle Chance, wenn du mich fragst. Ein ganzes Semester lang. Eine Unterkunft kriegt er gestellt. Er kann an vielen Kursen und Seminaren teilnehmen, die ihm auch hier angerechnet werden und Trainer Müller hat ihm die Möglichkeit verschafft, bei einem der dortigen Trainer als Trainee auszuhelfen", berichtet sie munter, lächelt und steckt sich den letzten Rest ihres Kuchenstücks in den Mund. Ich bin seltsam sprachlos und vollkommen überrumpelt.
![](https://img.wattpad.com/cover/207480067-288-k562372.jpg)
DU LIEST GERADE
Doors of my Mind - Der Freund meiner Schwester
Romance~Oft denke ich an einen bestimmten Tag zurück. An einen lauwarmen Herbsttag, an dem ich ihn das erste Mal gesehen habe. Er ist in meinen Träumen, in meinen Gedanken und Teil meiner intensivsten Fantasien. Ich begehre ihn. Doch seit ein paar Monaten...