Türchen 22 - Zusammensein

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Rammstein Adventskalender - Türchen 22

Zusammensein


Er fühlt sich einsam, denn er ist es auch. Er kennt hier niemanden. Vor allem aber hat er Angst, denn er war noch nie auf sich allein gestellt. Die Welt, so wie er sie einst kannte, hat sich verändert. Oder sieht sie nur mit anderen Augen, jetzt, in diesem Moment. In seiner Situation.

           Ihm ist kalt, trägt er doch nur ein T-Shirt. Trotzdem nimmt ihn keiner wahr. Wundern tut es ihn nicht. Er fragt sich, was er hier soll, warum er wieder hier ist. Er versteht das Alles nicht.

Er geht die Straßen entlang und sieht sich immer wieder verunsichert um. So langsam kommen jegliche Erinnerungen wieder, auch wenn er immer noch nicht versteht, was er hier eigentlich macht. Es fühlt sich an, als wäre es erst gestern gewesen, als er das letzte Mal hier war. Aber gleichzeitig hat er das Gefühl, dass er eine Ewigkeit nicht mehr hier war.

           Jeder Schritt, den er mehr geht, fällt ihm leichter. Irgendwas in seinem Kopf steuert ihn zu einem Ziel, auf das er jetzt noch nicht kommt. Sein Unterbewusstsein ist für diese Steuerung verantwortlich.

Er steht vor einem Haus aus rotem Backstein mit einem dunklen Dach. Eigentlich kein besonderes Haus, es unterscheidet sich kaum von den anderen in dieser Straße von Prenzlauer Berg. Eine der wenigen Straßen mit normalen Häusern. Einfamilienwohnhäuser mit glücklichen Familien. Eine, wie er sie gerne gehabt hätte, aber niemals haben durfte.

           Dieses Haus kommt ihm sehr bekannt vor, er hat viel Zeit hier verbracht, es war quasi sein Lebensanker. Aber die Betonung liegt auf war. Denn die Wahrheit ist; er ist tot. Mit 14 Jahren starb er bei seiner Flucht vor der Polizei, vor seinen Eltern und vor seinem Leben. Er begann Selbstmord, sprang von einer Brücke in den schmerzhaften Tod. Deshalb kann ihn auch niemand sehen und deshalb versteht er nicht, warum er wieder hier auf der Erde ist.

            Das Haus, vor dem er steht, gehört der Familie seines besten Freundes. Paul und er waren unzertrennlich, als er noch am Leben war. Paul hat ihn so oft gerettet, nur beim letzten Mal konnte er ihn nicht mehr retten und Paul musste mitansehen, wie sein bester Freund in die Fluten des Todes sprang, mit einem Lächeln auf den Lippen.

Wie auf Kommando öffnet sich in dem Moment die Haustür und der Mensch, den er damals als seinen besten Freund betitelte, tritt heraus. Paul trägt eine Mütze, sein Gesicht verschwindet beinahe im Schal und sein Mantel scheint ihn warm zu halten. Er schließt die Tür ab und dreht sich wieder nach vorn, kann seinen Augen kaum trauen, wer da vor ihm steht. Mit offenem Mund steigt er langsam die Treppenstufen hinunter und geht auf den Jungen in dem schwarzen T-Shirt zu.

„Das ist unmöglich...", flüstert Paul und betrachtet seinen Freund genau, „Richard, bist du es?"

           Er kann ihn sehen, weil es Pauls einziger Weihnachtswunsch war, nach zwei Jahren seinen besten Freund wiederzusehen. Schließlich vermisst er ihn so sehr.

„Ja, ich bin es."

„Aber wie... Du bist doch..."

„Tot? Ja, bin ich. Ich verstehe es ja auch nicht, warum ich hier bin."

„Mein Wunsch hat sich erfüllt. Ich habe mir gewünscht, dich wiederzusehen. Jetzt bist du hier. Aber wie ist das möglich? Es ist doch noch gar nicht Weihnachten", Paul ist vollkommen verwirrt.

„Ich kann es dir auch nicht erklären, ich kenne die Antwort nicht. Aber es freut mich wirklich, dich wiederzusehen."

„Mich auch, und wie!"

„Wollen wir spazieren gehen?", fragt Richard und weiß genau, wo er hinmöchte.

Paul willigt und so machen sie sich auf den Weg. Zunächst schweigen sie, auch Paul hat bereits eine Vorahnung, wo Richard hinmöchte. Erst dann wird er Richard die Fragen stellen, auf die er endlich die Antworten wissen will. Diese unbeantworteten Fragen, die ihn seit zwei Jahren Tag für Tag und vor allem nachts quälen.

Sie erreichen die Brücke, die alles veränderte. Es ist eine normale Verkehrsbrücke, zumindest auf den ersten Blick. An dem Geländer, an dem es damals, im Sommer vor zwei Jahren, geschah, stehen mehrere Trauerkerzen und Blumen, mehrere Teddybären und auch Briefe und Schilder. Von Freunden und auch – zu Richards überraschen – von seiner Familie.

          Richard betrachtet die Briefe und Schilder, liest die Worte.

„Ich wünschte, du würdest noch leben. Jeden Gott verdammten Tag bereue ich, dass ich nie eingegriffen und dich im Stich gelassen habe. Ich habe dein Leben zerstört, ich habe für deinen Tod unterschrieben. Es tut mir leid, verzeih mir, kleiner Bruder. Ich liebe dich."

„Ich wusste gar nicht, dass es meinem Bruder etwas bedeutet, dass ich nicht mehr da bin."

„Oh und wie ihm das was bedeutet. Richtig mitgenommen hat es ihn. Ein ganzes Jahr war er danach nicht in der Schule, in Therapie ist er bis heute."

„Dass hätte nie gedacht, wirklich nicht. Wow", in Richard breitet sich ein komisches Gefühl aus.

            Er hat wirklich geglaubt, es wäre Gordon scheiß egal, was mit ihm passiert. Schließlich hatten sie nie einen guten Draht zueinander.

„Immer wieder wird hier was hingebracht. Besonders zum Todestag, zu deinem Geburtstag und zu Weihnachten. Selbst von deiner Mutter. Von ihr stammt einer der Bären."

„Krass."

            Das wird ja immer interessanter.

„Warum hast du das damals getan? Wieso bist du nicht, wie sonst auch, einfach zu uns gekommen? Ich meine, du warst doch sowieso bei mir und dann bist du einfach weggelaufen."

„Weil ich Polizisten gesehen habe. Sie wollten mich wieder nach Hause holen und ich wollte und konnte dieses hin und her nicht mehr. Ich wollte einfach frei sein, verstehst du? Ich konnte nicht mehr in dieser negativen Welt leben", erklärt Richard und sieht nach unten.

             Eine merkwürdige Vorstellung, wenn er bedenkt, dass er da mal wirklich runtergesprungen ist.

„Das ist das beste Weihnachtsgeschenk überhaupt."

„Was meinst du?"

„Na, dass ich dich mal wiedersehe. Aber vor allem bekomme ich jetzt die Antwort, die ich immer haben wollte. Warum du das getan hast. Weißt du, ich habe mir selbst auch oft die Schuld gegeben, weil ich dich nicht retten konnte..."

„Das ist völliger Quatsch! Paul, dich trifft keinerlei Schuld. Ich habe mich ganz allein dazu entschieden. Wenn ich das jetzt so sehe, dann tut es mir auch leid, aber letztendlich habe ich nur noch mich selbst gesehen und nicht mehr die Menschen um mich herum. Es tut mir wirklich leid. Verzeihst du mir?"

„Ja, Richard. Ich verzeihe dir."

              Die beiden umarmen sich fest. Nur dabei löst sich Richard mehr und mehr auf, bis er ganz verschwunden ist, denn der Wunsch hat sich erfüllt und Richards Geist wird nicht mehr gebraucht. Und für Paul ist dies mit Abstand das beste Weihnachten überhaupt und irgendwann wird der Tag kommen, an dem er Richard folgen wird. Doch bis dahin wird er ihn für immer in seinem Herzen tragen.

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