»𝓐urelia, bitte iss noch etwas!«, fleht meine Mutter mich an, doch ich will nichts essen. Am liebsten will ich nie wieder etwas essen.
Ich stochere mit der Gabel in meinem Essen herum und will möglichst viel Zeit vergehen lassen. Vielleicht denkt meine Mutter dann, ich habe doch noch etwas gegessen, was aber in Wahrheit gar nicht der Fall ist. Ich lasse mir den restlichen Tag nicht von ihr kaputtmachen, nur weil sie will, dass ich esse. Sie will, dass ich zunehme und noch viel hässlicher werde als ich es ohnehin schon bin. Aber diesen Gefallen werde ich ihr nicht tun.
Entschlossen stehe ich auf, schiebe den Stuhl an den Tisch und gehe nach oben in mein Zimmer. Mir ist egal, was sie jetzt von mir denkt. Ich habe heute schon viel zu viel gegessen und die Zahl auf der Waage muss endlich weniger werden. Ich muss stark bleiben und darf nicht aufgeben. Mir fehlen schließlich nur noch ein paar Kilos, dann würde ich doch auch wirklich aufhören. Aber es soll sich wenigstens lohnen und ich will ebenfalls endlich etwas erreichen, so wie alle anderen in meinem Umfeld.
Meine Kleidung lasse ich auf den Boden fallen und dann stelle ich mich vor den Spiegel, der an einer meiner Wände hängt. Ängstlich schaue ich mich an. Er zeigt mir nicht das Spiegelbild, das ich gerne sehen würde. Er zeigt mir etwas, was ich über alles hasse - meinen schrecklich dicken und hässlichen Körper.
Ich ziehe die Haut an meiner Hüfte so weit bis ich einen Schmerz spüre. Viel zu viel Fett, denke ich sofort. Wieso kann ich nicht endlich dünn sein?
Aber ich werde es schaffen, ich werde bald dünn sein und vor allem schön! Alle werden mich und mein Aussehen beneiden. Doch in erster Linie werde ich mich endlich in meinem Körper wohlfühlen und dann wird es mir auch besser gehen. Ich freue mich so riesig darauf!
Aufgrund der neuen Motivation und Euphorie, die sich überall in mir ausbreitet, beschließe ich einige Sit-Ups zu machen. Schließlich muss ich endlich Erfolge sehen, sowohl auf der Waage als auch im Spiegel.
Plötzlich klingelt mein Handy, was mich aus meinen Gedanken zurück in die Realität holt. Also stehe ich von dem harten, kalten Holzboden auf und schaue auf das Display.
Der Name von meiner besten Freundin leuchtet auf.
»Liv?«, sage ich fragend.
»Hey Süße! Hast du Lust, gleich mit Grace und mir ins Kino und anschließend essen zu gehen? Du weißt schon, in unserem Lieblingsrestaurant unter dem Kino.«
Ich muss mich zusammenreißen, dass Liv nicht merkt, wie sehr ich außer Atem bin, wegen der Übungen. Um ehrlich zu sein hätte ich wirklich nochmal Lust aus diesem Haus zu kommen, doch andererseits wollen die beiden essen gehen. Und in dieser Pizzeria gibt es garantiert nichts unter 500 Kalorien, was ich mir gerade absolut nicht leisten kann. Meine Mutter hatte mich heute schon zum Essen verdonnert, was bereits eindeutig zu viel war. Wenn ich jetzt nicht stark bleibe, wird mich die Zahl auf der Waage morgen dafür bestrafen, dass ich schwach geworden bin.
»Hmm... Ich weiß nicht, ich muss noch für die Mathe-Klausur lernen, weil bisher habe ich dafür noch nichts gemacht und ich wollte ungern wieder fünf Punkte schreiben...«
Apropos, ich muss wirklich unbedingt noch lernen. Ich habe zwar keine Lust, aber das ist mir definitiv um einiges lieber als essen zu müssen.
»Oh schade, aber kann ich verstehen... Dann bis morgen...«, sagt sie so, dass man deutlich heraushören kann wie enttäuscht sie ist, und legt auf.
Mir tut es auch wirklich leid und mein schlechtes Gewissen plagt mich nun, jedoch ist es auf jeden Fall das kleinere Übel. Anders würde ich in Mathe eine schlechte Note bekommen und zusätzlich noch zunehmen, was noch viel schlimmer ist als nur meine beste Freundin zu enttäuschen.
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Die magere Wahrheit
Teen Fiction»Ich will nichts essen!« Am liebsten nie wieder. Aurelia rutscht unerwartet in eine Essstörung, obwohl sie nie Probleme mit ihrem Gewicht oder dem Essen hatte. Aber plötzlich wird genau das zur Qual für sie. Sie beginnt das Gefühl von Kontrolle zu...