Kapitel 11

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𝓚urz bevor ich die Klingel betätige, versuche ich mich von meinem zurückgelegten Sprint zu beruhigen. Den gesamten Weg von zuhause bis hierher bin ich gerannt und dementsprechend jetzt ziemlich außer Puste. Nach einigen Minuten, als sich meine Atmung wieder normalisiert hat, klingle ich mit zittrigen Fingern bei dem Haus von Liv.

Dann reißt sie auch schon die Tür auf und strahlt mich mit ihren blauen Augen an. »Hey, da bist du ja!«, ruft sie fröhlich, während sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht streicht und mich flüchtig umarmt. »Los, komm rein!«

Ich folge ihr in den Flur, wo ich schnell die Schuhe von meinen Füßen streife und gehe anschließend weiter ins Wohnzimmer. Dort sehe ich bereits Grace, die neben Tarek und Milan sitzt.

»Hi«, sage ich in die Runde und schaue Milan an, der mit seiner Hand rechts von sich auf das Sofa klopft, um mir zu signalisieren, dass ich mich zu ihm setzen soll. Dementsprechend nehme ich neben ihm Platz.

»Möchte jemand von euch etwas trinken?«, will er wissen. Alle nicken, sodass auch mir wieder nichts anderes übrig bleibt. Ich mag keine Mitläufer und bin selbst wirklich keiner, obwohl man es in dieser Situation annehmen könnte. Ein Bier wird wohl nichts schaden und außerdem werde ich davon nicht sofort betrunken sein. Es gibt also keinen Grund zur Sorge — dachte ich jedenfalls.

Kurze Zeit später kommt Milan wieder zurück und reicht mir die Flasche, während sich unsere Blicke kreuzen. Irgendwie fühlt es sich wie ein Déjà-vu an, da ich schon einmal vor seinen Augen geflüchtet bin. Ich frage mich, was der Grund dafür ist, da ich keine Angst vor ihm habe und er absolut nicht einschüchternd oder unfreundlich ist.

»Danke«, sage ich und lächle leicht. Dabei ist mein Blick konzentriert auf die Flasche gerichtet. Aber als wir alle miteinander anstoßen, habe ich keine andere Wahl als ihm in die Augen zu schauen.

»Lasst uns Just Dance spielen!«, schlägt Liv aufgeregt vor und macht alles bereit, nachdem wir zugestimmt haben. Tarek trägt in der Zwischenzeit zusammen mit Milan den Holztisch wenige Meter weiter weg, damit wir genug Platz haben, um uns zu bewegen.

Ich muss gestehen, dass ich absolut keine Lust habe zu tanzen, da ich es noch nie richtig mochte. Schon als kleines Kind saß ich auf Kindergeburtstagen lieber am Rand und schaute zu, da ich vermeiden wollte, dass man mir dabei zusah. Selbstsicher war ich nicht wirklich und genauso wenig von mir selbst überzeugt. Doch dies wäre ein guter Ausgleich zu den Kalorien in meinem Getränk. Mir bleibt sowieso wahrscheinlich nichts Anderes übrig, auch wenn es mich eine ziemliche Überwindung kosten wird. Aber was habe ich schon zu verlieren? Ich bin bei meinen besten Freundinnen und zwei Jungs, die sich sowieso nicht dafür interessieren und es womöglich nicht besser können.

»Los, komm!«, ruft mir Liv zu und zieht mich an meinen Händen von dem gemütlichen Sofa weg. Ich atme tief durch und versuche die Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen, was mir selbstverständlich nicht gelingt.

Was ist, wenn sie dich auslachen? Was ist, wenn du deine Arme zu weit hebst und dein ganzes Fett an den Seiten herausquillt? Du kannst nicht tanzen, du bist zu fett und hässlich! Schämst du dich nicht?

Doch es ist zu spät. Wenn ich jetzt einen Rückzieher mache, fliege ich auf und dann werden sie noch mehr lachen. Augen zu und durch!

Angestrengt versuche ich das zu machen, was die Anderen auch tun. Nach wenigen Minuten habe ich mich ein kleines Bisschen hineingefunden, doch von Spaß kann ich immer noch nicht sprechen. Mir geht es einzig und allein nur um die Kalorien, die immer mehr und mehr verschwinden. Wenn ich mir stärker Mühe gebe, dann verliere ich vielleicht 124, was mehr ist als ich heute zu mir genommen habe! Meine Eltern waren beide außer Haus, sodass niemand kontrollieren konnte, was ich esse und was nicht. Und da ich jetzt bei Liv bin, werde ich definitiv etwas essen — nicht. Solange sie mir das noch abkaufen, ist alles in Ordnung.

Die magere WahrheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt