Kapitel 6

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𝓓as glühend heiße Wasser läuft an meinem Körper herunter. Es brennt auf meiner Haut und irgendwie ist der Schmerz schön, er beruhigt mich. Ich hoffe, dass das Wasser heiß genug ist, um das ganze Fett mit abzuwaschen. Doch als ich wieder vor dem Spiegel stehe, der nun fast komplett beschlagen ist, werde ich bloß enttäuscht. An Enttäuschungen habe ich mich jedoch inzwischen gewöhnt. Ich sehe einem frustrierten und unglücklichen Mädchen ins Gesicht, welches sich selbst mehr hasst als alles andere. Ihre gesamte Haut ist gerötet, aufgrund des heißen Wassers. Viel schlimmer ist allerdings, dass sie immer noch um einiges zu dick ist.

Das Einzige, was mich jetzt noch retten kann, ist die Waage. Splitterfasernackt stelle ich mich vorsichtig darauf und verspüre Angst, so wie immer in diesem Moment.

50,9 Kilogramm. Bald habe ich es geschafft! Ich bin so knapp vor meinem Ziel und darf nicht aufgeben, egal was meine Eltern sagen. Sie dürfen mich nicht dazu zwingen erneut zuzunehmen — noch nicht. Es ist nur noch ein Kilo, dann werde ich wieder normal sein, aber wenn ich dieses Ziel nicht erreiche — von dem ich nun wirklich nicht mehr weit entfernt bin — bin ich ein Versager. Ich will auch endlich mal gewinnen anstatt immer nur zu verlieren.

Doch obwohl ich abgenommen habe, ist es nicht genug. Ich freue mich nicht wie sonst, da ich gerne mehr Gewicht verloren hätte. Das, was mir die Waage angezeigt hat, war dennoch leider zu viel. Ich werde niemals schön sein ...

Meine Wunde versorge ich, da ich Angst habe, dass sie sich entzündet. Auch wenn ich es eigentlich nicht anders verdient hätte. Trotzdem ist dann die Gefahr noch größer, dass meine Eltern das ebenfalls herausfinden, wobei sie momentan ohnehin schon viel zu viel wissen.

Als das neue Pflaster haftet, ziehe ich meine Klamotten an und schiebe vorsichtig den Stoff meiner Unterwäsche über das Pflaster, sodass es komplett versteckt und für niemanden sichtbar ist.

In meinem Zimmer schaue ich auf mein Handy, da ich tatsächlich einige Nachrichten habe. Eine ist von Liv: 'Hey Süße, hast du Lust, heute mit uns in die Stadt zu gehen?'
Lust habe ich keine, jedoch unternehme ich deutlich lieber etwas mit meinen Freunden anstatt hier zuhause von meinen Eltern mit Essen gefoltert zu werden. Also entscheide ich mich dazu, einfach zuzusagen.

'Okay, perfekt! Dann komm doch einfach gegen 15 Uhr zu mir nachhause!', kommt kurz darauf zurück. Ich werfe einen Blick auf meine Uhr, die mir anzeigt, dass ich mich so langsam auch schon fertig machen sollte, wenn ich nicht zu spät sein will.

Also gehe ich Richtung Küche, um meinen Eltern noch schnell Bescheid zu geben, in der Hoffnung, dass sie mich in Frieden lassen.

»Ich wollte euch nur sagen, dass ich jetzt mit Liv und Grace in die Stadt gehe«, sage ich vorsichtig.

»Ich glaube nicht, dass du jetzt irgendwohin gehst«, kommt es streng von meiner Mutter.

»Warum nicht?« Ich verstehe wirklich nicht, warum ich mich plötzlich nicht mit meinen Freunden treffen darf. Sonst sagen meine Eltern schließlich auch immer, ich soll mehr mit anderen Leuten machen.

»Wie warum nicht? Da fragst du noch? Wir können dir nicht mehr vertrauen, Aurelia, versteh uns doch bitte. Wir machen uns wirklich große Sorgen um dich!«

»Ihr müsst euch keine Sorgen um mich machen, es ist alles in Ordnung! Ihr könnt mir vertrauen. Ich will mich nur mit Liv und Grace treffen«, versuche ich zu erklären, doch vermutlich habe ich keine Chance gegen meine Eltern.

»Die ganze Zeit sind wir davon ausgegangen, wir können dir vertrauen. Doch dann habe ich dich gesehen und du siehst fürchterlich aus! Auf deinem ganzen Rücken sind Blutergüsse verteilt. Aurelia, das ist gefährlich, was du machst.« Heutzutage ist alles gefährlich, aber doch nicht, wenn man ein bisschen Gewicht und Fett loswerden will. Wieso sieht das nicht mal jemand realistisch? Warum müssen alle so übertreiben?

Die magere WahrheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt