»𝓖uten Morgen, Aurelia. Wie geht es dir?«, begrüßt mich Frau Hoffmann und lächelt mich dabei an. Ihre braunen Locken sitzen perfekt, genauso wie der zart rote Lippenstift, der ihre Lippen leuchten lässt. Ihre Wimpern sind dezent getuscht und die Augenbrauen leicht und ordentlich nachgezogen. Dazu trägt sie eine lockere rote Bluse, genau in dem Farbton ihrer Lippen.
»Ich weiß es nicht. Ganz... okay?«, frage ich eher als dass es eine Aussage ist. Ich hasse diese Frage und normalerweise würde ich lügen, um nicht alles erklären zu müssen, aber ich will besser und vor allem ehrlich sein.
»Mhm... Verstehe«, murmelt sie, während sie irgendetwas auf ihrem Blatt notiert. »Wie ist es dir denn in der Zwischenzeit ergangen, nachdem du von hier weggelaufen bist? Hat sich etwas verändert?« Mist. Musste sie das jetzt erwähnen? Dass ich immer nur weglaufen kann.
»Das tut mir übrigens sehr leid. Ich weiß auch nicht, was da mit mir los war. Das war alles ziemlich viel, was Sie mir gesagt haben«, versuche ich mich zu rechtfertigen, obwohl es zwecklos ist. »Irgendwie hat sich viel verändert und irgendwie auch nicht. Heute Morgen habe ich mit meiner Mutter gesprochen und daraufhin sogar gefrühstückt. Danach habe ich mich aber sehr schlecht gefühlt. Ich habe mit meiner besten Freundin gesprochen, nachdem wir uns gestritten haben und sie hat mir vorgeschlagen, eine Pro- und Kontra-Liste zu erstellen, um entscheiden zu können, wie ich weiter vorgehe. Und ich habe mich oft mit einem Freund getroffen, der mir tatsächlich gesagt hat, dass er Gefühle für mich hat. Ich weiß nicht, was ich von all dem halten und wie ich mich entscheiden soll.«
Ich hätte nicht gedacht, dass ich so viel auf einmal einer fast fremden Frau erzählen kann. Und ich muss sagen, dass ich ziemlich erstaunt bin und vielleicht auch ein wenig stolz?
»Du hast recht, in der Tat ist viel passiert in deinem Leben. Was meinst du damit, wenn du sagst, dass du nicht weißt, wofür du dich entscheiden sollst?« Es war klar, dass sie nachhaken muss.
»Für oder gegen das Abnehmen, beziehungsweise Essen.«
»Wie hat sich denn dein Gewicht entwickelt?«
»Es ist gleich geblieben.« Es ist mir unangenehm, dass ich nicht weiter abgenommen habe. In diesem Moment ist es mein Glück, weil sie mir dann nicht wieder mit einer Klinik drohen kann, aber ich fühle mich schrecklich.
»Immerhin hast du nicht weiter abgenommen, das wäre wirklich nicht gut. Du weißt, was dir droht. Auch wenn dir das nicht gefällt, musst du versuchen jeden Tag mindestens eintausend Kalorien zu dir zu nehmen. Das klingt sehr viel für dich, ist es aber nicht. Es ist immer noch weit unter dem, was du eigentlich essen musst. Aber es ist wichtig, dass du langsam versuchst mehr zu essen und die Kalorien steigerst«, spricht sie vor sich hin und ich habe das Bedürfnis zu schreien, weinen und am liebsten Wände einzuschlagen.
Möglicherweise hätte ich mich tatsächlich gegen das weitere Abnehmen entschieden, aber jetzt ist es schon wieder so zwingend und das stört mich enorm. Ich will die Entscheidung selbst treffen dürfen und nicht ständig andere.
»Hm... Wie es aussieht, habe ich wirklich keine andere Wahl«, stelle ich enttäuscht fest. Enttäuscht, dass ich mein Ziel nicht erreicht habe und scheinbar nie erreichen werde. Dass meine Traumblase, in der ich monatelang gelebt habe, soeben mit einer ganz spitzen Nadel zerstochen wurde und mich nun nichts mehr festhält. Sie hat mich beschützt und vor allem immer gestützt, weil niemand an mich herangekommen ist. Sie war wie eine Schutzmauer und hat alles und jeden von mir fern gehalten.
»Hast du auch nicht. Du musst dir jetzt nur überlegen, wie und wo du mehr essen willst. Entweder in einer Klinik oder Zuhause. Aber es ist offensichtlich, dass du hier weniger Druck hast. Ein Klinikaufenthalt ist keineswegs etwas Schlechtes. Dennoch kann ich durchaus nachvollziehen, wenn du nicht dorthin möchtest.«
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Die magere Wahrheit
Fiksi Remaja»Ich will nichts essen!« Am liebsten nie wieder. Aurelia rutscht unerwartet in eine Essstörung, obwohl sie nie Probleme mit ihrem Gewicht oder dem Essen hatte. Aber plötzlich wird genau das zur Qual für sie. Sie beginnt das Gefühl von Kontrolle zu...