Kapitel 27

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»𝓗allo, Nala.« Milan steht grinsend in einem weißen T-Shirt sowie einer schwarzen Hose vor mir. Es ist mir ein Rätsel, wie ihm immer warm sein kann.
Ich hingegen trage wie so oft einen dicken, gemütlichen Pullover, eine lange Hose, meinen dunkelgrauen Mantel und heute sogar schon meine Winterschuhe.

Meine Sneaker sind mir jetzt einfach zu niedrig, weil dann der Teil meines Beins zwischen der Hose und den Schuhen, der direkt der Kälte ausgesetzt ist, eiskalt wird. Also habe ich mich kurzerhand für meine braunen, höheren Schuhe zusammen mit meinen warmen Wollsocken entschieden, die meine Oma für mich gestrickt hat. Ich weiß zwar nicht, was Milan geplant hat, aber ich will auf keinen Fall mehr als nötig frieren — obwohl ich es sowieso meistens tue.

»Hey, Simba.« Auch ich schenke ihm ein Lächeln. Doch irgendwie ist die Stimmung merkwürdig. Der Abend gestern hat alles verändert. Nun ist es anders mit ihm. Jetzt sind wir keine Freunde mehr, oder? Wir haben miteinander gekuschelt. Das war der erste Körperkontakt mit einer Person, der so innig und vertraut war. Keinen Menschen habe ich je so an mich herangelassen, weil ich mich gegen Berührungen immer gewehrt habe. Für mich waren sie seit ich denken kann unangenehm.
An Geburtstagen, an Weihnachten und Silvester umarmt man sich — weil man es muss. Jedes Mal muss ich mich mehr als zusammenreißen, da es mir wirklich nicht leichtfällt.

Und jetzt? Jetzt habe ich mit einem Jungen gekuschelt, über den ich kaum etwas weiß. Der Gefühle für mich hat. Und ich? Was ist mit mir? Kann ich sie erwidern? Kann ich einen Menschen überhaupt so nah an mich heranlassen? Ich bin doch viel eher eine tickende Zeitbombe. Es ist nur eine Frage der Zeit bis ich in die Luft gehe und alles um mich herum zerstöre.

»Bist du bereit?«, fragt er und schaut mich wartend an. Milan sieht glücklich aus. Wahrscheinlich ist er es auch. Er scheint sich von allem hier mehr zu erhoffen.

»Wo- Wofür?«, stottere ich perplex. Bin ich bereit? Für eine Beziehung? Ich will ihn nicht so früh schon verletzen! Milan geht es gut und deshalb fühle ich mich gut — jedenfalls besser als sonst. Ich wünsche ihm wirklich nur das Beste. Aber ich kann doch nicht nach so einer kurzen Zeit schon mit ihm zusammen sein, wenn ich mir nicht einmal über meine Gefühle im Klaren bin.

»Für eine kleine Entführung.«

Ich atme erleichtert aus und der schwere Stein, der auf meinem Herzen lag, löst sich glücklicherweise. Da habe ich wohl nochmal Glück gehabt ...

»Was dachtest du denn?« Milans Lachen umgibt mich und verwirrt mich nur noch mehr. Ich mag es, wenn er lacht. Es freut mich, wenn er glücklich ist.

»Nichts. Alles gut.«
Ich rufe noch ein schnelles »Tschüss« durch das Haus und ziehe anschließend die Tür hinter mir zu.

Nachdem ich Milan schweren Herzens seinen gut riechenden Pulli überreicht habe, geht er zu seinem schwarzen Auto und öffnet die Beifahrertür.
»Sehr zuvorkommend«, sage ich daraufhin und blicke in seine blaugrünen Augen, in denen ich mich jedes Mal ein bisschen mehr verliere. Seine Haare sind aufgrund der Sonne in den letzten Monaten heller geworden und liegen locker auf seinem Kopf. Seine Wangen sind glatt, stoppelfrei und sehen weich aus. Milan ist sehr gepflegt, was mir gefällt, da ich ziemlich viel Wert auf Hygiene lege.
Doch dann versuche ich diese Gedanken schnell aus meinem Kopf zu verbannen, weil ich ihn erstens nicht anstarren will und zweitens kann es mir egal sein, wie er aussieht und ob er gepflegt ist oder nicht.

Ich lasse mich auf den Sitz fallen und warte darauf, dass auch Milan einsteigt. Zu gerne würde ich wissen, wo er mit mir hinfahren möchte. Ich bin wahnsinnig gespannt, was er mir dieses Mal zeigen wird.

Die magere WahrheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt