Kapitel 17

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»𝓐urelia, du bist die Nächste«, sagt die Frau, die auf den ersten Blick definitiv sehr freundlich wirkt. Ich bin ihr sehr dankbar, dass sie mich aus dem Wartezimmer rettet und ich die unangenehme Stille zwischen meinen Eltern und mir nun nicht mehr ertragen muss.

Sie stehen beide mit auf, doch die Dame mit den braunen, lockigen Haaren sagt zu meiner Erleichterung: »Hallo erstmal. Mein Name ist Frau Hoffmann. Ich denke, ich werde zunächst einmal nur mit ihrer Tochter sprechen. Wenn Sie möchten, können Sie gerne hier warten, dann reden wir am Ende noch kurz miteinander.«

Mir fällt sofort ein schwerer Stein vom Herzen, da es wirklich noch unangenehmer wäre, wenn meine Eltern während des gesamten Gesprächs mit anwesend sein würden.

Die braunhaarige Frau deutet auf eine Tür und lässt mich vorgehen, was mir absolut nicht gefällt, da ich es nicht mag, wenn Personen hinter mir gehen und mich von oben bis unten mustern können, ohne dass ich es mitbekomme. Ich spüre ihren Blick auf meinem Rücken, während ich einige Treppenstufen hinaufgehe.

Oben angekommen gehe ich durch eine weitere Tür, die in einen Raum führt, in dem sich — wie in Filmen — ein Sofa befindet und auf der anderen Seite ein Tisch mit drei weißen Stühlen. Weiter hinten steht ein Schreibtisch mit einem Computer und links daneben sind Regale mit unzähligen Büchern. Vor diesen ist ein kleines Puppenhaus aus Holz. Das gesamte Zimmer wirkt überraschenderweise überhaupt nicht ungemütlich und entspricht auf keinen Fall meinen Vorstellungen. Der Boden besteht aus Holz und die Tatsache, dass wir uns in der obersten Etage befinden, verschönert alles noch ein wenig. Ich hatte schon immer eine Vorliebe für Dachgeschosse.

»Setz dich ruhig.« Allein mit diesem Satz bin ich überfordert, weil ich nicht weiß, wo ich mich hinsetzen soll. Letztendlich entscheide ich mich aber für den weißen Stuhl, weil mir das Sofa zu bequem wäre. Schließlich bin ich bei einer Psychologin und nicht bei einer Freundin im Wohnzimmer.

»Ich denke, es lag in deinem Interesse, dass wir zuerst alleine reden.« Auf diese Aussage nicke ich lediglich und schaue aus dem Fenster, welches sich hinter dem Schreibtisch befindet und sich über die gesamte Wand erstreckt. Mein Blick fällt auf die vielen Bäume, sowie die Straße und ich weiß jetzt schon, dass ich wahrscheinlich die ganze Zeit über einzig und allein dorthin sehen werde.

»Deine Mutter erzählte mir am Telefon, dass du an einer Essstörung leidest, es dir momentan sehr schlecht geht und du deshalb auch im Krankenhaus lagst«, behauptet sie und innerlich rolle ich mit den Augen. Warum geht es mir wohl schlecht? Weil mich alle einengen und mir die Luft zum Atmen nehmen. Ich kann überhaupt kein normales Leben mehr führen, weil ich ständig kontrolliert werde und nicht das machen kann, was ich gerne würde.

»Willst du mir eventuell deine Sichtweise erläutern und mir ein wenig davon berichten?«, fragt sie vorsichtig und mit sanfter Stimme. Doch was soll ich nur erzählen? Die Wahrheit? Dass alle einfach nur spinnen und maßlos übertreiben? Also schweige ich lieber.

...

Ich bin wirklich froh als die fünfundvierzig Minuten schließlich vorbei sind, ich die Treppe wieder hinabsteigen kann und meiner Freiheit einen Schritt näher bin — auch wenn diese womöglich nicht von langer Dauer ist.

Wir haben zum Glück mehr oder weniger nur über belanglose Dinge gesprochen, sie hat mich nach meiner Familie, meinen Freunden und Schule gefragt. Glücklicherweise hat sie nirgendwo richtig nachgebohrt und mich nicht zum Reden gezwungen. Das Thema Essen konnten wir vorerst in den Hintergrund schieben. Allerdings musste ich ihr versprechen, dass ich, bis wir uns das nächste Mal sehen, jeden Tag notiere, was ich esse, damit sie sich einen Überblick verschaffen kann. Für mich ist es somit keine zusätzliche Arbeit, da ich ohnehin wieder strenger werde, was das anbelangt. Jetzt muss ich erst recht weniger essen, damit sie nicht denkt, ich würde viel zu viel essen.

Die magere WahrheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt