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Je näher du dem Zimmer kommst, desto lauter werden auch die Geräusche, die seitdem es so seltsam gekracht hat, überall in den alten Gängen zu hören sind. Es ist zwar unmöglich, dass ein Titan es bei Nacht in die Burg geschafft hat, aber um nicht völlig wehrlos zu sein nimmst du dir beim Vorbeigehen einen Speer von einer der Rüstungen mit, die den Gang zieren. Man kann ja nie wissen und eine Waffe dient schließlich auch zur Verteidigung gegen plündernde Menschen.

Plötzlich hörst du zusätzlich zu den seltsamen Geräuschen schreie. Diesmal steht es außer Frage, das ist Benni! Du lässt alles bis auf den Speer fallen und rennst sofort in die Richtung, aus der die Schreie kommen. Mittlerweile kannst du klar heraushören, dass er deinen Namen ruft. Als du um die nächste Ecke biegst, siehst du ein riesiges Loch in der Wand klaffen. So groß, dass ein Titan der 3 Meter Klasse perfekt durchkommen würde. Ausgeschlossen, dass dies von Menschen oder gar einem Tier verursacht wurde.

Du läufst weiter und kommst an das Zimmer, in das du Benni gebracht hattest. Die Tür ist nicht mehr als solche zu identifizieren, stattdessen ist auch hier ein riesiges Loch in der Wand. Ohne zu überlegen, was dir gleich begegnen wird, springst du in den Raum.

Deine Gesichtszüge gefrieren. Vor dir steht ein Titan, der mindestens 2 Meter groß sein muss, und nagt am Oberarm deines kleinen Bruders. Wie in Trance schreist du: "Lass ihn sofort los!", und lenkst damit die Aufmerksamkeit des Titanen auf dich. Er lässt Benni fallen und kommt auf dich zu. Du weichst seiner Hand gerade so aus und versuchst, auf seinen Rücken zu springen.

Dein Vater hat dir damals viel über die Titanen beigebracht, weshalb du genau weißt, auf welche Stelle du zielen musst. Doch bevor du zustechen kannst, erwischt er dich am Bein, zieht dich von seinem Rücken und versucht dir in die Seite zu beißen. Vor Adrenalin spürst du den Schmerz kaum und reagierst sofort, indem du ihm den Speer ins Auge rammst. Es verschafft dir genug Zeit, dich aus seinem Griff zu lösen, wieder auf seinen Nacken zu klettern und ihm diesmal den Gnadenstoß zu verpassen.

Nachdem der Titan mit dir auf den Schultern zu Boden sackt, fängst du an, deine Wunde zu spüren. Du keuchst auf, während du dich dem Körper deines Bruders näherst. "Benni", flüsterst du vorsichtig, während du seinen Kopf auf deinen Schoß ziehst.

"Mein Arm tut so weh", murmelt er benommen und deutet auf die Stelle, die der Titan angeknabbert hatte. Du zwingst dich zu einem traurigen Lächeln und flüsterst: "Er ist noch dran. Alles wird wieder gut".

Ob du damit ihn oder dich belügen willst, weißt du nicht genau. Vorsichtig ziehst du seinen schlaffen Oberkörper zu dir hoch und gibst ihm einen Kuss auf die Stirn, bevor er leblos in deinen Armen zusammensackt. Wie gebannt starrst du in das langsam blasser werdende Gesicht deines Bruders. Du warst zu spät. Bevor du eingreifen konntest, hatte der Titan ihn bereits mit seinem starken Griff tödlich verletzt.

Nach einer gefühlten Ewigkeit der Fassungslosigkeit stehst du auf und nimmst ihn mit dir. Im Hof gräbst du, so gut es mit deinen Händen geht, ein Grab und baust aus ein paar Stöckern ein kleines Kreuz. Nachdem du noch einen kleinen Strauß Blumen gesammelt und dazugelegt hast, gehst du so schnell wie möglich wieder in das Gebäude.

In so kurzer Zeit hast du alles verloren, was dir jemals wichtig war. Man müsse meinen, es wäre dir egal, ob du jetzt stirbst oder nicht, aber aus einem mir unerklärlichen Grund möchtest du Leben. Und wenn es einfach nur dafür ist, dass deine Familie nicht in Vergessenheit gerät.

Aus Angst vor den Titanen, die anscheinend auch bei Nacht unterwegs sein können, ziehst du dich an den höchsten Punkt der Burg zurück. Erschöpft lehnst du dich an die Wand und schläfst langsam ein.

- 24. 02. 2020
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[ überarbeitet - 11. Mai 2022 ]

My New World || Levi x ReaderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt