"Schürfwunden"

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Die Dielen knarzten, als sie auf Zehnspitzen über sie taumelte. Das Knarzen schmiegte sich an die rauschenden Stimmen, die aus dem Röhrenfernseher drangen, und an das schwere Ausatmen von Rauch, das immer allgegenwärtig war. Sie konnte nicht schlafen. Sie wandelte stattdessen über die dunkelbraunen Dielen und ließ sich von der Dunkelheit umhüllen, bis sie sich auf die Treppenstufen setzte und im Dämmerlicht durch das Geländer sah. Ihre Mutter konnte auch nicht schlafen. Sie saß mit dem Rücken zu ihr, in dem Sessel, dessen bleicher Stoff zerkratzt war und das Polster ausgesessen. Sie saß da und sie zog an ihrer Zigarette, während ihr leerer, scharfer, müder, nostalgischer, mürrischer Blick auf dem Röhrenfernseher lag. Sie saß da und die Rauchschwaden legten sich federleicht tonnenschwer um ihre Schultern und über ihr dunkelrotgefärbtes Haar in dem kleinen Knoten auf ihrem kleinen Kopf. Sie saß da und sie dachte nach und eigentlich dachte sie garnichts, aber sie dachte nach. Sie saß da und sie schluckte, wenn der Keuchhusten kam. Sie saß da und sie schluckte alles hinunter und dabei verlor sie die Nerven und auch ihre Kinder.
Das Mädchen saß weiter auf den Treppenstufen, hatte ihre nackten Knie nah an sich herangezogen und das Kinn mit den Schürfwunden auf ihnen und auf den darauf eingekerbten Schürfwunden abgelegt. Sie hatte dauernd Schürfwunden, Blutpflecken auf ihrer Kleidung und Krusten über Wunden, die trotzdem immer wieder aufgingen. Immer ging jede Wunde wieder auf und fiel das Mädchen immer wieder hin. Das war nun mal das, was Kinder taten. Sich Wunden aufreißen lassen. Ihr dunkles Haar beschützte ihre nackten Schultern, aber es war niemand da, der ihre nackte Seele beschützte. Das helle Licht des Fernsehers streifte sie, wenn es durch die Stäbe des Geländers fiel. Sie lauschte dem schweren Atem ihrer Mutter, wenn sie den Rauch hinaus bließ, und starrte in die Ferne. Sie wollte sich nicht den Krimi, den ihre Mutter schaute, ansehen, sondern die Rauchschwaden studieren, die ihre Mutter umgaben und sie festhielten und es war gar nicht schlimm, sondern es half nur und ihre Mutter war eine schlechte Mutter, aber das war das, was gute Mütter nun mal waren. Nein. Ihre Mutter war keine gute Mutter. Aber was sollte ihre Mutter schon tun? Sie hatten ein Haus und sich. Und Schulden und Zigaretten und knarzende Dielen, über die um zwei Uhr nachts geschlichen wurde. Sie hatten eine Treppe. Eine Treppe mit einer Aussicht. Sie kauerte auf der Treppe, bis sie wegdämmerte. Das Mädchen schlief dort bis zum Morgengrauen und um fünf Uhr wurde sie wach wegen den lauten Geräuschen des Röhrenfernsehers und nicht wegen dem Rauch, der sich in ihre Schürfwunden geschlichen hatte. Als sie ihren Kopf von ihren Knien hob, strich sie sanft mit den Fingerspitzen über deren roten Schürfwunden, bis es brannte. Sie stand auf, schlich über die knarzenden Dielen und zog eine kalte Decke über sich und ihre mit Rauch vollgesogenen Schürfwunden.

9/Dezember/2019

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