Entsetzt starrte ich auf die herausgerissenen Buchseiten, die meinen Zimmerboden wie einen zweiten Teppich bedeckten. Sowohl meine heimlich unter meinem Bett versteckte Kiste als auch Jonathans Buchkiste lagen leer vor meinem Bettpfosten. Das zerrissene Buchcover von Leo Tolstois Werk Krieg und Frieden befand sich vor meinem rechten Fuß und verschwamm durch den Tränenschleier, der sich vor meinen Augen bildete. Fassungslos schob ich eine Hand vor meinen Mund und ließ mich wankend an meiner Zimmerwand nieder. Ich zog die Knie an meinen Oberkörper und fing bitterlich an zu weinen. Die losen Buchseiten raschelten im leichten Luftzug, der durch die nicht ganz dichten Fenster drang. Innerlich fühlte sich das Geräusch wie ein ohrenbetäubender Knall an. Als ich mich wenige Augenblicke später gefangen hatte, spürte ich Wut in mir aufsteigen. Ich sah auf meine Füße, die auf sämtlichen Papierseiten verharrten, die mir so viel bedeutet hatten. Plötzlich tauchte zwischen dem gelblichen Weiß der Buchseiten ein dunkler Schatten auf. Marcus. Seine Augen kamen näher wie rotglühende Kohlen in der Dunkelheit. Mein Herz schlug so heftig, dass mein Körper bebte. Krampfhaft versuchte ich ein angstvolles Wimmern zu unterdrücken.
»Wen haben wir denn da? Etwa unsere Heldin in Todesangst?« Grinsend beugte sich mein Schwager zu mir herunter.
»Warum hast du das gemacht?« Ich musste schlucken, konnte es aber nicht, da mir die Angst den Rachen zuschnürte.
Anstatt zu antworten, lachte Marcus leise. Angespannt kniff ich meine Augenlider zusammen und versuchte tief durchzuatmen. Ich musste mich zusammenreißen, um klar denken zu können. Ich durfte mich Marcus gegenüber nicht verraten.
»Du hättest wohl gedacht, du könntest den Brief einfach verschwinden lassen, ohne dass ich es merke.« Mit blankem Entsetzen registrierte ich Marcus Worte. Er wusste es. Wahrscheinlich hatte er es die ganze Zeit gewusst. Ertappt hielt ich inne, versuchte verzweifelt meine bebenden Hände zu beruhigen.
»Es wird Zeit ehrlich zu sein, nicht wahr?« Marcus streckte eine Hand aus und mit seinem linken Zeigefinger strich er eine Haarsträhne aus meinem Gesicht. Seine Berührung fühlte sich wie Feuer an. Mit einer hektischen, geradezu panischen Bewegung riss ich mein Gesicht aus der Reichweite seiner Hand.
»Es reicht. Sei nicht so ungehorsam«, fuhr er mich an. Auch unter seiner Körperoberfläche brodelte die Wut, dass konnte ich deutlich spüren. In meinem Kopf war alles durcheinander, ich hatte Schwierigkeiten einen klaren Gedanken zu fassen. Marcus wusste also von dem Brief. Er weiß, dass du ihn hast. Und wer weiß, was er mit dir machen wird, hämmerte es in meinem Kopf.
»Von welchem Brief sprichst du?«, stammelte ich und versuchte mich dumm zu stellen. Ich richtete meine Augen abermals auf meine bebenden Hände, um Marcus stechendem Blick auszuweichen.
»Das weißt du genau.« Marcus aufgesetztes Grinsen war aus seinem Gesicht verschwunden. Während ich fieberhaft darüber nachdachte, was ich als nächstes sagen sollte, spürte ich wie kalter Schweiß meinen Rücken hinunter rann.
»Mich kannst du nicht täuschen, Ailina. Nicht mehr, seit ich in jener Nacht deinen Kopf hinter der Gardine gesehen habe.« Die schleichende Erkenntnis, dass Marcus mich damals gesehen hatte, ließ die Angst wie eine lähmende Welle durch meinen Körper fahren. Aber warum hatte er mich damals davonkommen lassen?
Marcus hatte sich erhoben und marschierte inzwischen vor mir her. Dabei drückte er seine Fußsohlen besonders kräftig auf die Buchseiten.
»Du hättest wohl gedacht, dich hätte keiner gesehen und ich hätte dein komisches Verhalten nicht bemerkt. Aber du hattest schon immer etwas gegen mich. Schon seit du mich das erste Mal an der Seite von Gina gesehen hast.« Ich wusste was Marcus vorhatte. Er wollte mich provozieren, sodass ich die Beherrschung verlor und etwas Unüberlegtes sagte. Deswegen presste ich meine Lippen fest zusammen. Während Marcus weiter redete, versuchte ich heimlich näher an meine Nähkartons zu rücken. Dort hatte ich Nähnadeln und eine Schere verstaut. Aber meine Beine gehorchten mir nur widerwillig, da sich die Furcht mit meinem Blut vermischt hatte und durch meinen zitternden Körper floss.
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Die Blutspenderin
Science FictionEnde des dritten Weltkriegs. Nach der Einberufung ihrer älteren Schwester Gina als Blutspenderin in das Staatskapitol, bleibt Ailina mit Ginas Tochter Skayla alleine zurück. Inzwischen kehren immer mehr Soldaten von der Front nach Agalega heim. Dar...