Meine keine Familie

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Der Dokumentarfilm "Meine keine Familie" gibt verstörende Innenansichten aus der Kommune des Künstlers Otto Mühl. Der abseits aller Aufgeregtheit tief bewegende Film ist auch ein kunsthistorisches Dokument.

Als es eng wurde für den Wiener Aktionskünstler Otto Mühl, als die Anklage wegen des fortgesetzten sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen nicht mehr abzuwenden war, überraschte er seine Kommunarden im nördlichen Burgenland mit einem neuen Werkstoff: Asche.

Die rund 200 Bewohner des Friedrichshofs hatten ihre Tagebücher abgegeben und durften miterleben, wie sich ihr Leben ein letztes Mal in Kunst verwandeln sollte: Als grauer Staub auf präparierter Leinwand. Kunst in den Augen Otto Mühls, objektiv betrachtet freilich in einen Alptraum, vor allem für die Kinder, die in der selbsternannten Großfamilie aufwuchsen.

Der Filmemacher Paul-Julien Robert war zwölf, als das „Lebensexperiment“ 1990 ein jähes Ende fand. Die sogenannte „Einführung in die Sexualität“, die für die Mädchen durch Mühl erfolgte – bei den Jungen oblag seiner ersten Frau das Recht auf Entjungferung – blieb ihm erspart. Anders als einem schwer traumatisierten Leidensgefährten, der sich vor der Kamera äußert.

Ein ständiger Missbrauch aber war sein Leben dennoch, seit die Gemeinschaft ihm mit vier Jahren die Mutter wegnahm, die man wie alle Schweizer in die Heimat schickte, um Geld für die Kommune zu verdienen. Noch heute bekennt sie sich vor der Kamera freimütig zu Mühls Idealen, zu denen auch die Abschaffung der Kleinfamilie zählte – für den Künstler der Urgrund aller psychischen Konflikte.

Mit Schuldzuweisungen hält sich der Regisseur zurück – doch die Bilder, die hier erstmals veröffentlicht werden, sprechen für sich. Überzeugt, mit der von ihm in einer Scheindemokratie streng kontrollierten Gruppe das bedeutendste Kunstwerk der Menschheit zu schaffen, ließ Mühl jeden Tag auf Video dokumentieren.

Man kann nur dankbar sein, dass sich die 20 Jahre von der Genossenschaft der ehemaligen Kommunarden unter Verschluss gehaltenen VHS-Kassetten nicht von selbst gelöscht haben. Es sind Dokumente des täglich fortgesetzten Machtmissbrauchs eines narzisstischen Patriarchen, der im Triumph des eigenen Willens über Abhängige einen sadistischen Lustgewinn erlebt.

In der Kunstwelt erlebte der im vergangenen März verstorbene Mühl nach Verbüßung seiner siebenjährigen Haftstrafe eine rasche Rehabilitierung, die 2010 in einer Retrospektive im Wiener Leopold-Museum ihren Höhepunkt fand. In die Debatte über die anhaltende Präsenz seines Werks in Ausstellungen und Museums-Schausammlungen mischt sich sein Opfer Paul-Julien Robert nicht ein.

Dennoch ist der abseits aller Aufgeregtheit tief bewegende Film auch ein kunsthistorisches Dokument. Nie zuvor ließ sich nacherleben, welchen Weg die Aktionskunst Mühls unter Ausschluss der Öffentlichkeit tatsächlich genommen hat. Wie Mühl seine Kommunarden vor der Gruppe zu infantilen Gesangs- und Tanznummern drängte und auf die Verweigerung von Kindern wie Paul Julien-Robert mit Gewalt und Erniedrigung reagierte.

Sieht man diesen Film, dann ist die Frage nicht mehr: Warum hängen Mühls minderwertige Gemälde aus dieser Phase noch in öffentlichen Kunstmuseen? Ihr Entstehen ist von kriminellen Handlungen kaum zu trennen. Sie sind Relikte des Missbrauchs.

Wer Missbrauch nicht verstanden hat, sollte sich informierenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt