„Du hast was gemacht?", fragte Sera ungläubig. „Du willst mir doch nicht weismachen, dass du die ganze Nacht als riesiger Hund durch die Gegend gestreunert bist." Sie lachte auf. „Komm schon Lia, für solche Späße sind wir zu alt."
Lia knetete Seras Bettdecke und suchte vergebens nach Argumenten, die ihre Freundin überzeugen konnten. Über eine Stunde war bereits vergangen, in der sie Sera die noch immer etwas verschwommenen Geschehnisse der Nacht schilderte und sie davon zu überzeugen versuchte, dass alles wirklich so vorgefallen war.
Nachdem sie den fehlenden Schlaf der Nacht weitestgehend nachgeholt hatte, war sie ohne zu zögern aufgebrochen, um ihre beste Freundin einzuweihen. An der Tür des hübschen fliederfarbenen Reihenhauses hatte sie sofort Kaspar, der quirlige Jack Russel Terrier, begrüßt und sich begeistert ihrer Schuhe angenommen. Sera stand an der Tür und musterte Lia unsicher, die sich vage an den Streit vom Vortag erinnerte. Eine Weile schwiegen sie beide, bis sie beschlossen, ihn einstimmig zu begraben.
Sera bat Lia herein und gemeinsam gingen sie in ihr Zimmer, wo es sich bereits Schneeflöckchen, die Katze, die Lia am Morgen mehrmals durch den Kopf gegangen war, gemütlich gemacht hatte. Sera hob die protestierende Katze auf ihren Schoß und ließ sich mit Lia auf der blumenbestickten Bettdecke nieder. Lia brauchte nicht lange, um ihr das Gespräch mit Elian zu schildern, doch wie zu erwarten zweifelte Sera stark an dieser Version der Geschichte. „Wirklich, ich erinnere mich daran."
Sera musterte sie ernst. „Oder du tust es, weil du glaubst, dass es so war, und es dir deshalb einredest."
„Ich rede mir nichts ein", widersprach Lia gekränkt.
„Aber es gibt keine Werwölfe. Hast du gesehen, wie sich einer dieser riesigen Wölfe in einen Menschen verwandelt hat? Nein. Wahrscheinlich waren es irgendwelche Streuner."
„Und ich war dann wohl unter Drogen?", bemerkte Lia säuerlich.
„Nein", betonte Sera pikiert, „ich denke, du bist Schlaf gewandelt und hast sie in deinen Traum eingebaut."
„Aber ich habe gesehen, wie sich Elian verwandelt hat. Das war keine Einbildung. Das ist heute Morgen passiert." Schneeflöckchen fauchte empört, als Lia die Stimme hob.
Sera überlegte mit gerunzelter Stirn.
„Ich weiß, dass du nach einer logischen Erklärung suchst, aber die gibt es nicht", fuhr Lia rasch fort. „Ich habe gestern unglaublich schnell weite Entfernungen zurückgelegt, viel weiter, als ich in Menschengestalt hätte kommen können - selbst wenn ich die ganze Nacht durchgerannt wäre - habe Dinge getan, an die ich mich noch genau erinnere. Ich gebe zu, ich habe einiges vergessen, aber wenn das alles nur ein Traum war, sollte ich dann nicht so ziemlich alles vergessen haben?"
Sera sah aus, als wolle sie etwas dazu sagen, doch Lia legte keine Pause ein. „Ich war hier, in eurem Garten, ich bin zwischen den Bäumen entlanggeschlichen und habe Herrn Grün zerstört, ich..." Ihre Stimme verklang, als sie wieder an die riesigen Kreaturen denken musste, die sie verfolgt hatten.
Sera war auf einmal ganz blass geworden. „Heute Nacht so um halb vier hat Kaspar auf einmal wie verrückt angefangen zu bellen. Irgendwie klang er ganz anders als sonst... Er stand einfach im Flur mit Blick auf die Haustür und hat gebellt. Meine Mutter musste ihn ins Schlafzimmer tragen, weil er wie erstarrt war. Ich habe ihn noch nie so erlebt."
Schneeflöckchen maunzte auf, denn Sera hatte angefangen, immer schneller durch ihr langes weißes Fell zu streichen. „Naja", sie senkte den Kopf und überlegte kurz. „Wir dachten, er hätte vielleicht ein Eichhörnchen gesehen oder so, weil naja, er flippt doch ständig wegen irgendwas aus." Sie schaute zum Fenster. „Aber nicht so."
„Erinnerst du dich an gestern Nachmittag, als ich die ganze Zeit dieses Grollen gehört habe...?", begann Lia, doch Sera winkte ab. Sie starrte noch immer mit glasigem Blick vor sich hin, als versuche sie, das soeben Gesagte neu zu ordnen. „Es ergibt alles einen Sinn, wenn man es so sieht, aber..." Ihre Stimme verklang. „Entschuldige Lia, aber ich kann nicht einfach anfangen, an Werwölfe und den ganzen Kram zu glauben, nur aufgrund von Erzählungen-."
„Ich könnte es dir beweisen. Sobald ich gelernt habe, mich kontrolliert zu verwandeln, könnte ich-."
„Nein. Um ehrlich zu sein fühle ich mich noch nicht bereit dafür." Sie überlegte einen Augenblick, dann fügte sie hinzu: „Aber das macht eigentlich auch keinen Unterschied, denn du bist es, die damit zurechtkommen muss und du hast deine Sichtweise bereits verändert. Es reicht, wenn ich mich mit der Theorie auseinandersetze." Plötzlich grinste sie. „Also, habt ihr Wölfe denn auch ein Rudel?"
Lia starrte sie an. „Ich verstehe nicht, wie du so tun kannst, als sei alles beim Alten", sagte sie matt. „Gestern hat sich etwas verändert und das kann man nicht leugnen."
Sera seufzte und nahm ihre Hand. „Was gestern Nacht passiert ist, betrifft vor allem dich. Du hast es erlebt und kannst es daher auch leichter annehmen. Es tut mir leid, aber mir reicht deine Geschichte nicht. Ich kann nicht meine Weltansicht umkrempeln und mich dabei nur auf das Wort einer einzigen Person verlassen. Ich kann nicht und ich will nicht, da ich kein Teil davon bin und hoffnungslos verloren wäre."
„Also glaubst du mir nicht?", folgerte Lia resigniert.
„Ich glaube dir. Und ich glaube an die Wahrheit, mit der wir alle leben. Vorerst." Sie schob Schneeflöckchen beiseite und holte eine Schachtel Bonbons hervor, von denen sie eines Lia reichte. „Was hast du als nächstes vor?", fragte sie.
Lia zuckte mit den Schultern. Nach ihrer Erzählung fühlte sie sich merkwürdig leer. Sie hatte gehofft, dass sie von ihrer Freundin Verständnis und Beistand erhielt. Vielleicht sogar einen weiteren Ratschlag. Aber anscheinend war sie nun erst einmal auf sich gestellt. „Ich werde wohl das Rudel aufsuchen. Elian hat mich eingeladen", erwiderte sie schließlich.
Sera schaute sie aufmerksam an.
„Was ist denn? Ja, es gibt ein Rudel", fügte Lia schnippisch hinzu.
„Natürlich", murmelte Sera. „Ich weiß nur nicht, ob das die beste Idee ist."
„Wie bitte? Du hast doch eben mit dem Rudel angefangen."
„Ich weiß, ich weiß. Aber, naja, überleg doch mal. Alles, was du bisher über diese Werwolfsache weißt-,"
„-was nicht viel ist-", ergänzte Lia,
„weißt du von diesem Elian. Du hast doch keine Ahnung, was er eigentlich im Sinn hat. Es wäre nur zu leicht, dich zu manipulieren."
„Mich zu manipulieren? Wieso das denn?"
Sera suchte nach den passenden Worten. „Vielleicht..., vielleicht will er dich auf seine Seite ziehen, bevor es ein anderer tut und du bist Teil seines Rudels, bevor du überhaupt eine Ahnung hast, was seine Absichten sind."
„Bestimmt", schnaubte Lia. „Aber mal ehrlich, was habe ich denn für eine Wahl? Du hast Recht, ich habe keine Ahnung von alledem und das gefällt mir nicht." Schneeflöckchen maunzte und Sera fing wieder an, sie zu streicheln. Lia wartete, doch sie schwieg. „Also solange du auch keinen besseren Einfall hast, werde ich sie morgen besuchen", schloss Lia schließlich. „Ich möchte mich nicht mit dir streiten, also lass uns bitte das Thema einfach beenden", ergänzte sie und sprang entschlossen auf. Schneeflöckchen fauchte und sauste unter den Schrank.
„Du hast Recht", stimmte ihr Sera erleichtert zu und erhob sich ebenfalls. „Lass uns Herrn Grün begraben, bevor Thorsten wiederkommt. Vielleicht fällt es ihm ja nicht auf", fügte sie hoffnungsvoll hinzu.
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Im Schatten der Nacht
ParanormalDie sechzehnjährige Lia hat von Werwölfen ungefähr so viel Ahnung wie von Autos. Doch das ändert sich schnell, als sie sich eines Vollmondnachts in eben einen solchen verwandelt. Schon bald wird sie vom nächsten Rudel aufgenommen und taucht in das g...