Lia kam sich schon reichlich dämlich vor, wie sie auf den Wald zulief, ermuntert von der silbernen Wölfin, welche immer wieder in kleinen Hopsern voraussprang, nur um anschließend wieder zu Lia zurückzukehren und sie zu umkreisen. Egal, was soll's. Sie nahm Fahrt auf, sprang über Äste und Wurzeln, immer tiefer in den Wald hinein. Verita lief voraus, gerade so weit entfernt, dass Lia sie noch im Halbdunkel erspähen konnte. Gott sei dank hat sie kein schwarzes Fell. Der Wald wurde immer dichter, doch dank ihrer geschärften Sinne konnte sie noch immer zielsicher den Pfad ausmachen, welchem Verita folgte. Einer spontanen Eingebung folgend hielt Lia kurz an, um ihre Schuhe auszuziehen. Wenn ich die morgen mal wiederfinde.
Auf einmal schoss rechts von ihr ein Schatten vorbei. Im nächsten Moment hörte sie Verita jaulen. „Verita?", rief sie erschrocken und rannte hastig weiter, doch die silberne Wölfin war verschwunden. „Verita!"
Keine Antwort.
Aus der Ferne hörte sie weiteres Jaulen und Knurren. Sie verließ den schmalen Pfad und schlug sich ins Dickicht, den gedämpften Geräuschen folgend. Inzwischen war es völlig düster. Das blasse Mondlicht reichte nicht aus, um den tannennadelbeckten Boden zu erhellen. Sie stolperte weiter, ihre Füße waren bereits wund und voller Splitter. Sie kam sich viel zu laut vor, wie sie da hilflos durch den Wald stolperte und zum ersten Mal wünschte sie sich, sie könnte sich verwandeln. Rutschend und stolpernd kam sie zum Stehen und lauschte. Doch es war völlig still. Kein Rascheln, kein Knurren. Sie holte tief Luft, um Elian oder Verita zu rufen, hielt dann jedoch inne. Irgendetwas in ihr warnte sie davor, sich bemerkbar zu machen. Eine Gänsehaut überkam sie, obwohl sie nicht fror. Angestrengt lauschte sie, doch es blieb still. Doch irgendetwas stimmte nicht. Ein modriger Geruch stieg ihr in die Nase, ein Geruch nach Metall mit einem Hauch Verwesung - Blut! schoss es ihr durch den Kopf. Dann hörte sie hinter sich ein Knacken. Langsam, ganz langsam drehte sich sich auf der Stelle um und sah in die pechschwarzen Augen eines Vampirs. Die weiße Haut war so bleich, dass Lia die Adern erkennen konnte, welche sich wie ein schwarzes Netz den Hals und die nackten Arme entlangzogen. Er trug eine zerrissene Hose- deren Löcher wohl nicht einem modischen Empfinden zu verdanken waren - und ein zerfetztes schwarzes Shirt, welches mit dunklen Flecken nicht genau erkennbarer Herkunft bedeckt war. Einige waren schon verkrustet, andere schienen noch ganz frisch zu sein. Am Hals war eine blutende Wunde, doch noch während Lia hinsah, schlossen sich die Wundränder, bis nur noch die Reste angetrockneten Blutes übrig waren. Es war der gleiche Vampir, den sie auch in der Vollmondnacht im Garten gesehen hatte, dessen war Lia sich sicher.
Er neigte leicht sein Haupt - Lia konnte erkennen, dass sein schwarzes Haar ebenfalls feucht war - und sah sie an, ein gieriger Blick lag auf seinem Gesicht. „Hallo, meine Kleine", wisperte er, eine Stimme, wie knisterndes Papier. Lia antwortete nicht. Sie war erstarrt, wie eine Gazelle, die einem Löwen ins Auge blickt, während das Blut in ihren Ohren rauschte. Der Vampir ging bedächtig einen Schritt auf sie zu, seine Bewegungen waren langsam und beherrscht, wie eine Raubkatze, die sich an ihr hilfloses Opfer heranschlich. Lias Nackenhaare stellten sich auf, doch noch immer war sie wie erstarrt. Ihre Gedanken rasten. Was sollte sie tun? Wegrennen? Es stand außer Frage, dass der Vampir sie in Sekundenschnelle wieder einholen würde. Die Werwölfe rufen? Vielleicht, doch auch hier galt, wie sollten die Wölfe rechtzeitig eintreffen, bevor der Vampir ihr ein Ende bereitet hatte?
„Wieso so schüchtern?", fragte der Mann - das Wesen, Lia konnte in ihm nichts Menschliches mehr erkennen - sie neckisch. „Ich habe dich erwartet." Er seufzte sehnsüchtig und sah sie mit gierigem Blick an. „Du weißt nicht, was du für eine Bedeutung für mich hast." Er schlich noch einen Schritt nach vorne, fixierte sie mit ihrem Blick, registrierte jede ihrer Bewegungen.
Lia schluckte. Ihre Gliedmaßen kribbelten, von ihrem Herzen aus breitete sich ein Pochen aus, bis sie das Gefühl hatte, ihr ganzer Körper würde pulsieren.
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Im Schatten der Nacht
ParanormalDie sechzehnjährige Lia hat von Werwölfen ungefähr so viel Ahnung wie von Autos. Doch das ändert sich schnell, als sie sich eines Vollmondnachts in eben einen solchen verwandelt. Schon bald wird sie vom nächsten Rudel aufgenommen und taucht in das g...