Leise rauschte der Wind durch die letzten Blätter der Bäume, die braun und vertrocknet noch immer jedem Wetter trotzten. Zweige knackten im Wald, verborgen unter tiefen Schichten frisch gefallenen Laubs. Mit einem leisen Säuseln durchschnitt eine frische Prise Sträucher und Gräser und trug neue, verheißungsvolle Gerüche heran. Gefällte Fichtenstämme verbreiteten ihren würzig-harzigen Duft, der sich mit dem typischen Waldgeruch nach feuchtem Laub verband und für eine unverwechselbare Mischung sorgte. Doch trotz der überwältigenden Intensität dieses Duftes stachen andere deutlich hervor. Tiere, deren Geruch ebenso deutliche Spuren hinterließ, wie es sonst Fußabdrücke taten. Es war wie ein Theaterspiel aus Klang und Duft, in dem der Wald nur die Kulisse für die unzähligen kleinen und großen Lebewesen darstellte. Wie Fäden waren ihre Wege miteinander verknüpft, und am Ursprung jedes Fadens ging ein Lebewesen seinem Tagesgeschäft nach. Ganz in der Nähe scharrte ein Reh durch das Laub, womöglich auf der Suche nach etwas Essbarem in dieser Jahreszeit.
„Was machst du da?", rief eine Stimme auf einmal viel zu laut.
Lia zuckte erschrocken zusammen, verlor das Gleichgewicht und landete auf dem feuchten Gras. Sie riss die Augen auf und blinzelte Maika, ihrer kleinen Schwester, entgegen. „Wonach sieht es denn aus?", erwiderte sie schnippisch, denn der Schreck darüber, dass sie so tief aus ihren Gedanken gerissen worden war, saß ihr noch in den Knochen.
Maika runzelte verwirrt die Stirn. „Du lässt dich absichtlich von der Schaukel fallen? Aber warum das denn?"
Lia seufzte. „Nein, ich bin nicht absichtlich von der Schaukel gefallen, du hast mich erschreckt. Und was machst du hier? Wo ist Luis?"
„Der muss Mathe lernen." Maika musterte Lia kurz und zog dann ihre Jacke aus. „Wenn du keine Jacke anhast, will ich auch keine tragen", verkündete sie entschlossen.
„Und wenn ich krank werde, wirst du es auch", ergänzte Lia und zog Maika wieder an. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie tatsächlich im Shirt bei herbstlichen Temperaturen im Gras saß, doch eigenartigerweise fror sie nicht im Geringsten. Die letzten zwei Tage hatte sie damit verbracht, sich ausgiebig mit ihren neu geschärften Sinnen zu beschäftigen. Je mehr sie sich darauf konzentrierte, desto besser lernte sie, verschiedene Geräusche und Gerüche voneinander zu unterscheiden, ja, sie hatte fast den Eindruck, ihre Fähigkeiten würden mit der Zeit immer stärker werden.
„Kommst du mit rein? Mama hat gesagt, ich soll dich holen, es gibt Kuchen."
Lia grinste. „Da kann ich nicht widerstehen."
Als sie gemeinsam zurück zum Haus liefen, testete Lia erneut die Luft. Es war gar nicht so einfach, sich auf ihren Geruchssinn zu konzentrieren, während ihre Augen dem Weg folgten, doch kaum holte sie Luft, überwältigte sie der starke, süßliche Geruch förmlich. Wieso habe ich ihn vorher nicht wahrgenommen?
Ihre Familie hatte sich bereits um den Esstisch versammelt, auf dem ein prächtiger Schokokuchen thronte. Ihr Vater war ganz hinter seiner Zeitung versteckt, nur sein grauer Schopf lugte über dem Rand hervor, während Lias Mutter Tee für alle eingoss. Luis mampfte bereits an einem riesigen Kuchenstück; seine Mathehefte lagen gefährlich nahe neben seinem schokoladenverschmierten Teller. Maika quetschte sich neben Luis auf die Bank und griff nach dem Kuchen.
„Maika, nimm doch bitte den Tortenheber, nicht die Finger!", ermahnte sie ihre Mutter streng.
Ertappt zog das kleine Mädchen die Hand zurück. Lia ließ sich neben ihren Geschwistern nieder und tat ihrer kleinen Schwester das begehrte größte Kuchenstück auf.
„Und würdest du bitte die Zeitung weglegen, Frederick?"
„Was?" Verdattert sah ihr Vater von seiner Lektüre auf, direkt in die blauen Augen seiner Frau, die ihn scharf ansah. „Ah ja, natürlich, Alene", beeilte er sich zu sagen und faltete knisternd die Zeitung zusammen. „Ich hab nur den Artikel zu den entlaufenen Wölfen überflogen. Völlig übertrieben, wenn ihr mich fragt." Er beugte sich vor und nahm sich ein Stück Kuchen. „Sie warnen davor, in der Nähe des Tierparks spazieren zu gehen und Katzen rauszulassen."
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Im Schatten der Nacht
ParanormalDie sechzehnjährige Lia hat von Werwölfen ungefähr so viel Ahnung wie von Autos. Doch das ändert sich schnell, als sie sich eines Vollmondnachts in eben einen solchen verwandelt. Schon bald wird sie vom nächsten Rudel aufgenommen und taucht in das g...