Rasch eilte sie durch den Wald, immer der schwachen Spur des Vampirs folgend. Es war nicht ganz einfach, den schalen Geruch zwischen all den Walddüften auszumachen. Ein paar Mal glaubte sie fast, die Spur verloren zu haben, doch immer wieder tauchte der modrige Vampirgeruch zwischen dem Duft nach Holz und Erde auf. Vor lauter Konzentration bemerkte sie erst gar nicht, dass sich der Wald um sie langsam gelichtet hatte, bis sie schließlich harten Asphalt unter ihren Pfoten spürte.
Sie hob den Kopf und sah sich um. Über ihr glitzerte schwach der Sternenhimmel, vereinzelte Punkte auf mitternachtsblauem Firmament, beinahe überstrahlt vom gleißenden Licht des noch sehr vollen Mondes. Sie musste eine Schleife gelaufen sein, denn in nicht allzu weiter Entfernung leuchteten die Lichter der nur allzu vertrauten Stadt. Vorsichtig schälte sie sich aus dem Schatten des Waldes, bis sie in der Mitte der schmalen Landstraße stand, die direkt in die Vororte führte. Schon bei Tageslicht kaum befahren, lag sie nun vollkommen ausgestorben vor ihr, die vereinzelten Schlaglöcher durchbrachen den glatten Asphalt. Noch einmal suchte sie den Boden mit ihrer Schnauze nach der Vampirspur ab. Er war in Richtung Stadt gelaufen, eindeutig.
Schlimmes ahnend trabte sie los, rasch genug, dass der Boden wieder unter ihren Pfoten verschwamm, aber nicht so schnell, dass sie ihre Umgebung nicht mehr richtig im Auge behalten konnte. Rechts und links zogen Bäume vorbei, die in peinlich genauen Abständen die Straße säumten und wohl aus einer Zeit stammten, wo die Straße noch ein wichtiger Zufahrtsweg zur Stadt gewesen war. Schließlich tauchten auch die ersten Laternen auf, aber um diese Uhrzeit waren sie bereits wieder ausgeschaltet und so warfen die geraden Laternenmaste nur einen weiteren Schatten im schalen Mondlicht. Je näher sie der Stadt kam, desto unwohler begann sie sich zu fühlen. Sie wurde immer langsamer, bis sie kaum mehr trabte. Schließlich blieb sie ganz stehen. Das Straßenschild am Eingang des Vororts hatte sie bereits hinter sich gelassen. Die heruntergekommene Straße war einem ordentlich aufgemachten Weg gewichen, gesäumt von hübschen Mehrfamilienhäusern mit knapp bemessenen Grünflächen. Der Ort lag dunkel vor ihr, nur ganz vereinzelt drang noch Licht durch vorgezogene Vorhänge auf die Straße herab und ein Lüftungsschacht trug das leise Murmeln eines Fernsehers nach draußen.
Lia hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Sie hatte Elian und Verita gegen sieben aufgesucht und hatte das Gefühl, seitdem wären gerade einmal zwei Stunden vergangen, doch ein Blick zum hoch am Himmel stehenden Mond sagte ihr, dass das nicht stimmen konnte. Sie mussten bereits weit nach Mitternacht haben. Wo war die Zeit hin? War sie so lange durch den Wald geirrt? Unwillkürlich fand sie sich an ihre erste Verwandlung erinnert. Sie schüttelte sich. Waren Verwandlungen immer mit dem völligen Verlust des Zeitgefühls verbunden? Sie nahm sich vor, Elian bei der nächsten Gelegenheit danach zu fragen und zwang sich, sich wieder auf ihre Umgebung zu konzentrieren. Wenn sie eines gelernt hatte, die letzte Zeit, dann dass Unaufmerksamkeit schnell tödlich enden konnte.
Sie senkte den Kopf und suchte nach der Vampirspur, doch unter all den anderen Gerüchen war es unmöglich, den fahlen Geruch noch auszumachen. Benzin, beißend, Katzenurin, der sie an Zoos erinnerte, Menschen, wie an heißen Sommertagen in überfüllten Bussen, Hund, wie Wolf nur weniger intensiv...irgendwie weicher. Endlich hatte sie die Spur wiederentdeckt. Sie wagte kaum, aufzusehen, aus Angst, sie könnte sie wieder verlieren, sobald sich ihre Aufmerksamkeit auf ihre anderen Sinne richtete. Langsam lief sie weiter, doch etwas in ihrem Inneren sträubte sich zutiefst dagegen, ihre Richtung beizubehalten. Etwas, das ihre Haare zu Berge stehen ließ und ihr Herz zum Rasen brachte. Unsicher blieb sie stehen. Was war los? Wovor warnte sie ihr Unterbewusstsein? War etwa ein weiterer Vampir unterwegs?
Da hörte sie ein Geräusch, ein Scharren und Trommeln. Wie Pfoten auf Asphalt. Sie hielt inne und lauschte. Der Urheber des Geräuschs schien sich direkt um die nächste Biegung zu befinden. Plötzlich stieg ihr der inzwischen vertraute Geruch nach Wolf in die Nase. Nun, wo sie auch eine Hundefährte wahrgenommen hatte, fiel es ihr leicht, die beiden Düfte voneinander abzugrenzen. Wie Fußabdrücke in frisch gefallenem Schnee, so schienen sie vor ihrem inneren Auge zu leuchten. Wer war dieser Wolf? War es Elian? Oder Verita? Sie wollte rufen, doch etwas schnürte ihr die Kehle zu, warnte sie davor, auf sich aufmerksam zu machen. Sie wollte in Richtung des Geräuschs laufen, doch ihr war, als wären ihre Pfoten am Boden festgefroren. Angst kribbelte ihr Rückgrat empor.
DU LIEST GERADE
Im Schatten der Nacht
ParanormalneDie sechzehnjährige Lia hat von Werwölfen ungefähr so viel Ahnung wie von Autos. Doch das ändert sich schnell, als sie sich eines Vollmondnachts in eben einen solchen verwandelt. Schon bald wird sie vom nächsten Rudel aufgenommen und taucht in das g...